Wilde Zeiten - 1970 etc.. Stefan Koenig
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Draußen verstummte die Knallerei; es wurde zusehends ruhiger. Plötzlich hörten wir die Stimme des Busfahrers über den Lautsprecher. „Ich wünsche uns allen ein glückliches und friedvolles Neues Jahr und jetzt schalte ich mal meinen Privatsender ein, verehrte Fahrgäste!“ Es knackste und dann hörten wir einen Radio-Moderator mit der Teilansage: „… und hier eine Aufnahme vom Simon & Garfunkel-Konzert im Central Park“. Und wir hörten »The Sound of Silence«.
Dann rief der Fahrer unsere Haltestelle aus: „Olivaer Platz!“
Beim Aussteigen winkten wir ihm zu und er winkte zurück. Ob das ein verkappter Hippie war?
Der nächste Morgen begann spät mittags. Rolf hatte kein Auge zugemacht und schäumte vor Unverständnis und Wut und sah zum Heulen aus. Er fluchte über seine noch vor wenigen Stunden hochgeliebte Quiny und entdeckte plötzlich all jene Eigenschaften an ihr, die ihn eigentlich schon immer gestört hatten – alles unwichtige Kleinigkeiten, die ihm plötzlich einfielen, um sich den Abschied von ihr leichtzureden. Nach einer weinerlichen Dauerschleife von rund sechzig Minuten, versuchte ich Rolf mit einer Grundsatzdiskussion auf eine andere Spur zu bringen.
Wir fragten uns, ob wir eine Wohngemeinschaft oder schon eine Kommune waren. „Kommune“ war „in“. Kommunarden geisterten durch Presse, Funk und Fernsehen. Tommi, der manchmal einen auf christlich machte, stand der Sache skeptisch gegenüber. Ich erklärte ihm, dass genau das die Form des Zusammenlebens der Ur-Christen gewesen sei.
„Ach so. Alles teilen, egal wer was verdient.“
„So in etwa“, antwortete Karin.
Wir lebten jetzt alle zusammen, Tommi und Rosi, Rolf, Richy, Karin und ich – Quiny fiel wohl ab sofort weg und musste nur noch ihre Sachen abholen. Beppo, unser LKW-Fahrer, noch aus Frankfurter Zeiten, war im Herbst ausgezogen, weil frisch verliebt, und hatte Richy Platz gemacht. Richy, schlank und schlau, war weit entfernt von jedweder Liebelei; wir vermuteten, er würde in seinem jungen Leben ausschließlich einer Liebesheirat Raum geben. Das aber dann mit sofortiger Wirkung.
Tommi stand gut im Futter, war aber nicht dick; noch trug er seine Haare relativ kurz und sah aus wie eben ein typischer Postgewerkschaftler aussah. Seine Freundin, die achtzehnjährige Rosi, ein hellhäutiges, schlankes Blondinchen, trug ihre Haare schulterlang.
Rolfs wochenlange Bemühungen, sich eine Mähne stehen zu lassen, scheiterten merkwürdiger Weise bei jedem neuen Frisörbesuch, was eine lange, ebenso merkwürdige Entschuldigung des Gescheiterten, hinter sich herzog.
Darüber machte sich mit intellektuellem Humor mein alter Schulkamerad Richy regelmäßig lustig, der als Einziger von uns wallend lange Christushaare trug; dazu hatte er die passenden Jesus-Gesichtszüge, was ihm eine dauerhaft lächelnde Milde und eine gewisse Würde verlieh. Er konnte so schön leise und immer überzeugend reden. Auch wenn er sich über etwas belustigte, klang es nie gemein oder gar gehässig. Im Gegenteil, es klang wie ein zarter göttlich-köstlicher Hinweis.
Meinen 181 Zentimetern standen Karins zierliche 164 Zentimeter gegenüber. Meine gelegentlich mit Wasserstoffperoxyd aufgeplusterten dunklen Haare wurden von einem Schnauzer und manchmal von einem Vollbartversuch ergänzt und umrandeten meine allzu scharf geratene Nase, unter der – dem Herrgott sei’s gedankt – kein typisch männliches schmallippiges Plappermaul zugange war. Mit meinen Lippen war ich sehr zufrieden und Karin auch. Karin trug ihre volle, brünette Haarpracht halblang und hatte verführerische Kurven, die sie ohne Gewissensbisse einsetzte, um irgendwelche abstrusen Sympathisanten für ihren Großen Vorsitzenden Mao Tse-tung zu gewinnen.
Zeit für Wohngemeinschaften
Eine Woche vor Jahreswechsel war Jean-Francois, genannt Frankholz, zu Besuch gekommen. Ich ahnte bereits, dass er bleiben würde. Und so war es auch. Er war ein typischer Franzose, trug Cordhose und stets Hemd, manchmal ein Jackett, und er war wirklich nett und konnte gut kochen. Seine Brille und seine etwas gelockten wirren Haare machten aus ihm einen ausgeflippten Akademiker, der stets auf Durchreise und auf der Suche nach der Weltformel schien. Nun also waren wir eine Siebener-WG, und wenn wir alles teilen würden, wären wir eine Siebener-Kommune. Darüber mussten aber erst noch einige klärende Diskussionen geführt werden. Wir hatten Zeit und wir ließen uns zur Klärung Zeit.
Jeder hatte eine Arbeit und wir beschlossen, vorerst zu gleichen Teilen in eine Gemeinschaftskasse einzuzahlen. Der Betrag für die Miete war nach Zimmergröße gestaffelt. Die Gemeinschaftsräume wurden zu gleichen Teilen aufgeteilt. Blieben noch Strom, Telefon und Lebensmittel.
Die Zimmeraufteilung ging problemlos. Wir hatten ja bereits spontan bei Einzug entschieden, und jeder war zufrieden gewesen. Wenn nun jemand neu in die WG aufgenommen wurde, stand natürlich nicht jeder Raum zur Disposition sondern nur der frei gewordene. Tommis Freundin Rosi stellte dieses „Naturprinzip“, wie Rolf es einmal getauft hatte, in Frage. Tommi und ich hatten ihr Paroli geboten, aber jetzt – bei sieben Personen – sahen wir ein, dass wir neu aufteilen mussten, und es kam uns beiden gar nicht so ungelegen. Tommi und Rosi zogen gemeinsam in eines der großen Zimmer, Karin und ich in das andere.
So kamen wir alle problemlos in der Fünf-Zimmer-Wohnung unter. Als Gemeinschaftsraum mit Fernseher und sauteurer Blaupunkt-Stereoanlage diente uns der riesig große Flur, der mit unserer Gemeinschaftsküche eine räumliche Einheit bildete und gar nicht wie ein Flur wirkte.
Während wir heiß über Rolfs gescheiterte Beziehung, über Besitzansprüche, Egoismus, Neid und Eifersuchtsprobleme diskutierten, bereitete der oberbayrischen Stadt Laufen, der Quiny entstammte, eine Anti-Kriegsparole Kopfzerbrechen. Ein Unbekannter – oder war es gar ein heimliches und heimisches Revoluzzerweib? – hatte mittels gut haftender Farbe einen Kampfspruch aufs alte Stadttor gesprüht. Nachdem der Bürgermeister Anzeige wegen Sachbeschädigung gestellt und die Polizei ergebnislos nach dem Täter gefahndet hatte, beschäftigten sich jetzt auch die Stadträte mit dem Spruch auf der geschichtsträchtigen Pforte:
„Vietnam 150.000 Tote – Amis raus!“
In einem Antrag an den Rat hatte der evangelische Ortspfarrer Dr. Hohenberger, 47 Jahre alt, gefordert, die Parole nachträglich zu genehmigen und als improvisiertes Mahnmal „gegen einen der schmutzigsten Kriege der Menschheit“ zu erhalten. Pfarrer Hohenberger: „Ein solches Mahnmal fehlte leider bisher in Laufen. Jetzt haben wir eins. Noch dazu kostenlos!“ Davon jedoch wollten die ehrenwerten konservativen Stadtväter nichts wissen. Der Antrag wurde einstimmig abgeschmettert. Quiny hätte den Stadträten gewiss literweise Bier über die Seppelhosen gekippt … hätte, hätte, Fahrradkette.
*
„Hier werden Sie von Willy Brandt gefahren!“ Mit diesem Slogan an der Windschutzscheibe sollte auf Vorschlage eines stern-Reporters der Namensvetter des Bundeskanzlers, Taxifahrer Willy Brandt aus Bonn, für sein Unternehmen werben. Um die Wettbewerbsgleichheit nicht ins Schleudern zu bringen, verzichtete der Droschkenbesitzer jedoch auf diese Art von Public Relation. Nachher würde vielleicht der Kanzler mit der Parole „Hier regiert Sie ein Taxifahrer“ werben; wir Ex-Frankfurter lachten uns schepp, wie man in unserer Heimatstadt so schön sagte – aber wie konnten wir damals wissen, dass Jahre später tatsächlich ein Taxifahrer als Außenminister regierte?
Dass