Die Leiden des Henri Debras. Maike Braun
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Maike Braun
Die Leiden des Henri Debras
Ein historischer Roman über die Hysterie
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Inhaltsverzeichnis
VORBEMERKUNG
Die Geschichte beruht auf meinem wahren Fall. Die medizinische Diskussion entspricht – soweit ich das mit über hundert Jahren Abstand beurteilen kann – dem der damaligen Zeit. Die Ausgestaltung der Figuren, insbesondere ihre Motivation, ist jedoch frei erfunden. Die Recherche erfolgte anhand der Originaltexte, soweit diese verfügbar waren.
Ich danke Beate Paul für wertvolle Tipps zu Stil und Sprache, sowie meiner Familie für die Geduld, mit der sie meine Launen während des Schreibens ertragen hat.
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Kapitel 1
Ich blicke aus dem Fenster auf eine Landschaft, die ich nicht kenne und von der ich nicht weiß, wie ich in sie hineingeraten bin.
Am Feuer singen die Kosaken. Es riecht nach verkohltem Fleisch.
Ein Schweißtropfen rinnt meine Stirn hinunter, in meine Augenhöhle, brennt. Ich wische ihn nicht weg, ich will keine Aufmerksamkeit erregen.
Eine Zigeunerin löst sich aus der Gruppe von Männern und Frauen, die in der Mitte des Raumes kauern. Die Männer beginnen, mit der Zunge zu schnalzen. Das Mädchen hebt den Rock, wirft ihn aus wie ein Netz. Ich drehe den Kopf zur Wand. Es ist schlimm genug, zuhören zu müssen.
Jemand packt mich am Arm, schiebt mich zur Mitte hin. Das Mädchen kommt auf mich zu. Der Rock verbirgt nichts mehr. Ich schließe die Augen.
„Henri, Henri“, skandieren die Männer.
Die Frauen klatschen dazu rhythmisch in die Hände.
Ich spüre Bewegung. Der Gestank lässt nach. Gestank von wochenaltem Schweiß. Etwas anderes mischt sich darunter. Ein süßlicher Geruch. Wie von einer giftigen Pflanze. Ich öffne die Augen. Die Zigeunerin steht vor mir. Ich starre in ihr Gesicht, will die nackten Beine nicht sehen. Ihre Augen sind braun. Erde im Frühling. Ich strecke die Hand nach ihr aus. Sie lacht. Eine Ecke ihres Schneidezahns ist abgebrochen. Angespitzt. Wie bei einer Bisamratte. Groß. Gefährlich. Gierig.
„Ich will nicht“, rufe ich.
Der Bursche, der mich festhält, drückt mich zu Boden.
Ein anderer zieht mir die Beine unter dem Leib weg. Ich liege flach auf dem Rücken. Das Mädchen schwenkt seinen Rock über meinen Kopf. Ich presse die Augen zusammen, Kiefer, Brust. Doch ich muss atmen.
Sie ziehen mir die Hosen herunter. Ich spüre nacktes Fleisch an meinen Beinen. Glitschig. Heiß. Fordernd.
„Aufhören! Hört auf!“
Die Meute johlt. Das Mädchen reitet mich wie einen Gaul. Ich will sie abschütteln. Mich herauswinden. Ein Knie aufstellen. Die Burschen halten mich fest. Der abgebrochene Schneidezahn des Mädchens blitzt vor meinem Gesicht auf und ab. Kommt näher, immer näher. Ich rieche die Fäulnis dahinter. Schreie. Will weg. Warum bin ich überhaupt hier? Ich gehöre nicht hierher. So helft mir doch! Hilfe!
„Хвáтит!“, brüllt jemand – es reicht.
Das Mädchen lässt von mir ab. Der Hauptmann steht über mir. Die Zigeunerin hält er am Arm gepackt. Er bedeutet mir aufzustehen. Ich ziehe meine Hose hoch. Er mustert mich abfällig, nimmt das Mädchen mit.
Ich verkrieche mich in eine Ecke. Wann hat dieser Marsch endlich ein Ende?
Am Vorabend des 18. Januar 1886 saß Eugène Tisson vor dem verglimmenden Feuer und schwitzte. Den Überrock hatte er bereits abgestreift. Jetzt krempelte er sich die Hemdsärmel hoch.
Ihm gegenüber saß Doktor Lantier, ehemals Schiffsarzt auf der Dahomé, eine Decke über die Beine gelegt, die Krawatte so akkurat wie an einem Sonntagmorgen vor dem Kirchgang, und goss sich Rotwein ein. Er hob das Glas gegen das Flackern des Kaminfeuers, schwenkte die Flüssigkeit etwas hin und her, roch daran und führte es langsam zum Mund.
Tisson schüttelte den Kopf.
„Manche Dinge werde ich nie verstehen“, sagte er mit Blick auf den Wein in der Hand des Doktors.
Ein Lächeln schlich sich in die Falten auf Lantiers Gesicht.
„Mach