Die Leiden des Henri Debras. Maike Braun
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Читать онлайн книгу Die Leiden des Henri Debras - Maike Braun страница 4
Aupy drückte Tisson das Manuskript in die Hand, nahm den Talar vom Haken, und stürmte aus dem Zimmer, Tisson hinterher.
„Gehen wir zur Vorlesung?“
Ohne seinen Schritt zu verlangsamen, zog Aupy die Robe vollständig über und sprang die Treppe hinunter. „Legen Sie das Skript auf dem Pult ab und dann halten Sie sich im Hintergrund“, rief ihm Aupy über die Schulter zu.
Tisson stieß die Luft aus und setzte Aupys Talar nach.
Der Vorlesungssaal befand sich im Erdgeschoss direkt unter dem Speisesaal. Allerdings war er nur halb so groß. Die deckenhohen Fenster gaben den Blick auf einen der kleineren Gärten zwischen den Gebäudetrakten frei. Gaslampen erhellten zusätzlichen den Raum. Auf der linken Seite ging eine schmale Tür zu einem Nebenzimmer ab.
Etwa zwanzig Studenten standen in Grüppchen beieinander und plauderten, kippelten auf ihren Stühlen oder kritzelten vor sich hin.
Aupy stürmte auf das Rednerpult zu. Augenblicklich verstummten die Studenten, stellten ihre Stühle aufrecht, zupften an ihren Anzugärmeln und schlugen frische Seiten in ihren Notizbüchern auf. Ihr Blick war auf Aupy geheftet.
Dieser klopfte mehrmals mit den Handknöcheln auf das Rednerpult. Tisson legte das Manuskript vor ihm ab, trat zur Seite. Alle Sitzplätze waren belegt. Er ging auf einen der für die Patienten reservierten Stühle hinter dem Pult zu.
Aupy zog unter dem Pult ein Schemel hervor und stieg darauf.
„Meine Herren“, begann er, „ich werde Sie mit der modernen Nervenheilkunde vertraut machen.
„Möglicherweise“, sagte er und räusperte sich, „möglicherweise, sind Sie aus anderen Vorlesungen muntere Plauderstunden gewöhnt. Das wird jetzt anders. Möglicherweise sind Sie es gewohnt, monotone Vorträge zu hören. Auch das wird jetzt anders.“
Er wippte ein paar Mal auf dem Schemel auf und ab und setzte dann seinen Vortrag fort.
„Wir sind hier zwar – aus Pariser Sicht – in der Provinz. Aber deswegen sind wir noch lange nicht provinziell.“
Aupy verstummte. Tisson wartete auf ein Zeichen, auf einen Hinweis, auf eine Geste des Professors, mit der er ihn, seinen neuen Assistenten, den Studenten vorstellen würde. Doch Aupy fuhr mit seiner Vorlesung fort, als habe er ihn bereits vergessen.
„Ich werde Sie auf den neuesten Stand der Wissenschaft bringen“, sagte Aupy. „Vor allem aber werde ich Ihnen praktische Erfahrung vermitteln. Im Gegenzug verlange ich ungeteilte Aufmerksamkeit, Fleiß und Disziplin. Wem das zu anstrengend ist, der sollte jetzt besser gehen.“
Er schaute sich im Raum um. Niemand sprach.
„Nun gut“, sagte Aupy, strich die oberste Seite seines Manuskripts mit beiden Händen glatt.
Die Hysterie“, begann er, „aus dem Griechischen hystéra oder Gebärmutter abgeleitet, ist eine Frauenkrankheit.“
Jemand lachte. Aupy blickte von seinem Manuskript auf.
„Wer auch immer das war, er hat zu früh gelacht.“
Tisson bemerkte einen Rotschopf ganz links in der vordersten Reihe, der auf seiner Unterlippe kaute.
„Heutzutage ist die Wissenschaft viel weiter als noch vor fünfzig, ja zwanzig Jahren. Wir wissen, dass die Hysterie ein Nervenleiden ist.“
Aupy hielt inne, musterte wiederum die Studenten.
„Wenn Sie Hysterie hören“, fuhr er fort, „denken Sie wahrscheinlich an Frauen, die zu Boden sinken, sich krümmen, winden. Sklavinnen ihres Geschlechts.“
Er schaute erneut auf, Brennpunkt der Aufmerksamkeit, sprach weiter.
„Diese Krankheit ist heimtückisch, trügerisch, wechselhaft. Auf leisen Sohlen stiehlt sie sich in das Leben der Betroffenen. In die Waschhäuser, die Blumengeschäfte, die Hutmacherstuben. Greift heimlich nach ihrem Opfer. Eine Hand, ein Bein wird taub. Die Krankheit kriecht den Arm hinauf und setzt sich im Kopf fest. Pocht von innen gegen den Schädel, drängt hinaus, trübt die Sicht, lässt die Patienten Farben sehen, wo keine sind, Grau, wo Blumen blühen.“
Er hielt inne.
„Die Hysterie“, fuhr Aupy fort, „wütet im Innern dieser bedauernswerten Geschöpfe, verdreht ihre Eingeweide, verknotet, verstopft sie.“
Er blätterte um. „Wussten Sie, dass hysterische Frauen häufig tagelang keinen Harn lassen können? Sie müssen katheterisiert werden.“
Aupy beugte sich über das Pult, Tisson konnte ihn kaum verstehen. „Trauen Sie sich das zu? Bei einem fünfzehnjährigen Mädchen?“
Ein Grinsen huschte über das Gesicht des Rotschopfs. Lauernd. Gierig.
Widerlich, dachte Tisson.
Aupy fuhr fort: „Die Hysterie höhlt die Kranke von innen aus, lange bevor sie in Form von Attacken aus der Patientin herausbricht, explodiert, ihr ganzes Gift dem Betrachter, dem Arzt, Ihnen, entgegenschleudert. Sind Sie dafür gewappnet?“
Tisson atmete tief ein. Er war bereit. Jahrelang hatte er sich darauf vorbereitet.
Aupy richtete sich wieder auf: „Natürlich nicht. Deswegen sind Sie ja hier. Sie sind hier, um die Vorboten dieser Krankheit erkennen, um sie von anderen Nervenkrankheiten unterscheiden zu lernen. Um sie zu bannen, zu bändigen, zu brechen.“
Er drehte sich zu Tisson um, stutzte, als habe er jemand anderes erwartet, und sagte: „Führen Sie die Patienten herein.“
Tisson betrat das Nebenzimmer, wo er die Kranken vermutete. Eine Schwester saß auf einem Stuhl und flickte ein Anstaltshemd. Drei Mädchen standen am Fenster, verglichen ihre Halsbänder, glucksten. Als sie ihn bemerkten, steckten sie die Köpfe zusammen und begannen zu tuscheln.
Er räusperte sich. „Würden Sie mir bitte folgen?“
Kichern.
Er räusperte sich abermals.
„Würden Sie mir bitte folgen?“, äffte ihn eines der Mädchen nach.
Die Schwester legte ihre Handarbeit in einen Korb, stand auf. Augenblicklich verstummten die Mädchen, knöpften einen Ärmel zu, steckten Strähnen hoch und banden sich hastig die Samtbänder wieder um.
Eines nach dem anderen trippelten sie in den Vorlesungssaal, setzten sich in eine Reihe neben Tisson. Warteten.
Er studierte ihre Gesichter. Sie wirkten ernst. Die Hände im Schoß gefaltet, den Mund geschlossen, den Blick auf Aupy gerichtet.
Nur die, die ihn nachgeäfft hatte und