Die Leiden des Henri Debras. Maike Braun

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Die Leiden des Henri Debras - Maike Braun

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      „Mit Brom Kalium.“

      „Exakt. Genau das bekommt er. Hat Ihnen Schwester Marguerite nicht die Krankenakten gebracht?“

      Tisson nickte.

      “Dann sind Sie doch beschäftigt. Studieren Sie die Akten. Machen Sie eine Aufstellung über sämtliche Neuzugänge im letzten Jahr. Alter, durchschnittliche Verweildauer, Häufigkeit der Anfälle, Symptome etcetera etcetera. Vor allem aber achten Sie auf Störungen im Sehvermögen. Notieren Sie, welcher Art diese Störungen sind. Im Zweifelsfall befragen Sie die Patientinnen erneut.“

      Aupy setzte sich an den Schreibtisch, schob die Papiere zur Seite, zog ein leeres Blatt aus der Schublade hervor und begann zu schreiben.

      „Auch bei Henri kündigt sich ein Anfall durch eine Verengung des Sehfeldes an.“

      „Tisson! Wenn ich noch einmal diesen Namen höre, können Sie Ihre Sachen packen und sich von mir aus als Landarzt im Finistère niederlassen.“

      Die nächsten Wochen verbrachte Tisson damit, das Sehvermögen aller Neueinweisungen der letzten sechs Monate auszuloten. Er maß die Farbwahrnehmung, die Sehstärke und die Ausdehnung des Gesichtsfeldes. Letzteres stellte die aufwändigste Messung dar. Dazu arretierte er den Kopf der Patientin, wies sie an, einen zentralen Punkt zu fixieren und bewegte dann einen Metallstift auf einem Försterbogen, einer halbkreisförmigen Schiene, langsam von außen in Richtung Nasenspitze. Die Patientin gab ein Handzeichen, sobald sie den Stift wahrnahm. Dasselbe wiederholte er in Zwanzig-Grad-Schritten bis er einen Halbkreis durchschritten hatte.

      Schob er den Stift zu schnell, wurde die Messung ungenau. War er zu langsam, verloren die Patientinnen die Geduld und begannen die Augen hin und her zu bewegen. Dann musste er wieder von vorne beginnen. Darüber hinaus beklagten sich die Frauen ständig, dass er nicht mit ihnen rede. Er versuchte ihnen zu erklären, dass er sich konzentrieren müsse. Doch einige schienen sich regelrecht einen Spaß daraus zu machen, ihn abzulenken. Vor allem die Mädchen, die sich schon länger im Hospital befanden. Tisson nahm sich vor, mit Schwester Marguerite darüber zu sprechen, wie man den Alltag für die Patientinnen interessanter gestalten könne, damit diese nicht ihre gesamte jugendliche Vergnügungssucht an ihm austobten.

      Hinzu kam, dass er die Messblätter selbst anfertigen musste, da Aupy die wenigen Vordrucke für sich behielt. Tisson verbrachte mehrere Tage damit, konzentrische Kreise auf ein Blatt Papier zu zeichnen und die Gradzahlen von null bis hundertachtzig in Zwanzigerschritten darauf abzutragen.

      Wenn ihm vom langen Sitzen der Rücken schmerzte, ging er durch die Männerstation, wechselte einen Verband, horchte eine Brust ab, genoss das Brabbeln der Männer. Es war nicht an ihn gerichtet. Niemand erwartete eine Antwort. Es war mehr ein Zwiegespräch mit sich selbst. Ein erstauntes Aufmurren, wenn der Auswurf rot gefärbt war oder wenn die Glieder sich nicht mehr so biegen ließen wie gewohnt.

      In der Zwischenzeit kannte Tisson die meisten Patienten beim Namen. Albert, der Tabes-Patient, lächelte ihm dankbar zu, wenn Tisson die Stationsschwester an ihre Versprechen erinnerte, auch diesen Patienten im Garten spazieren zu führen. Anfangs hatte sie den Mann gemieden, weil er sich, wie sie meinte, sein Leiden aufgrund seines liederlichen Lebenswandels selbst zuzuschreiben habe. Sie hatte im Laufe der Zeit einiges von Aupy und den Studenten aufgeschnappt und wusste, dass Tabes dorsalis auf ausschweifenden Geschlechtsverkehr zurückzuführen war.

      Tisson hatte an das Motto ihres Ordens, die Barmherzigkeit, appelliert, woraufhin sie bis an die weißen Ränder ihrer Haube errötete und sich beschämt entfernte. Seitdem behandelte sie Albert wie alle anderen Gebrechlichen auf der Station. Zwei Pfleger trugen ihn die Treppe hinunter, wo er in einen Stuhl mit Rädern gesetzt und spazieren gefahren wurde.

      Manchmal übernahm Tisson selbst diese Aufgabe. Die Neuen fragte er dann immer, ob sie einen Henri Debra, Bauklempner, kannten. Doch keiner konnte ihm Auskunft geben. In der Krankenakte war keine Adresse vermerkt. Er würde wohl mit seinem uneingelösten Versprechen leben müssen.

      Tisson durchquerte den Innenhof, passierte das Badehaus der Männer und ging zu den Stallungen, um sein Véloziped zu holen.

      Wie jeden Mittwoch half er heute seinem Freund, Dr. Laçao, im Portugiesenviertel aus. Er sammelte praktische Erfahrung und Laçao hatte Unterstützung. Anschließend aßen sie dann gemeinsam zu Mittag. Allerdings hatte er die letzten zwei Wochen abgesagt, um schneller mit den Messungen voranzukommen.

      Er schob das Véloziped auf die Rue de Berry hinaus. Es war noch eines der alten Modelle. Ein Hochrad konnte er sich nicht leisten. Aber immerhin verfügte es über Pedale und, dank des Apothekers, von dem er das Fahrrad nach dessen Sturz günstig erworben hatte, über einen gepolsterten Sattel. So schlug ihm selbst eine Fahrt über Kopfsteinpflaster nicht zu sehr auf die Knochen. Tisson schwang sich auf sein Gefährt und radelte in Richtung Stadtgrenze.

      Laçao lehnte an einem Laternenpfahl vor dem Wirtshaus, ihrem Treffpunkt. Seine Zähne, genauso weiß wie seine Hemdkragen, blitzten in dem dunklen Gesicht auf, als sich Tisson auf dem Véloziped näherte.

      „Mein Freund“, sagte Laçao und der schmale Bartstreifen, der von seinem Oberlippenbart ausgehend rechts und links der Mundwinkel auf das Kinn zulief, krümmte sich zu einem sanften Bogen. „Kann dich die Wissenschaft für einen Morgen entbehren?“

      „Wenn man es Wissenschaft nennen kann, was ich da betreibe“, antwortete Tisson und stieg von seinem Véloziped.

      Wolken schoben sich vor das Guckloch am Himmel, durch das eine magere Sonne blinzelte. Es begann zu nieseln. Laçao spannte einen Regenschirm auf, Tisson klappte seinen Mantelkragen hoch.

      Sie gingen die Straße entlang. Die Häuser, drei Stockwerke hoch, reihten sich Schulter an Schulter. Über die Straße hinweg schienen sie einander Drohungen zuzurufen, während sie im Erdgeschoss um die Menschen wetteiferten. Sie lockten sie in Torbögen, Treppenaufgängen und Geschäftsräume, um sie wenig später ernüchtert, manchmal auch geläutert, selten zufrieden, wieder auszuspucken. Die Wohnungen im ersten Stock waren die schlimmsten. Immer dunkel, immer feucht, beherbergten sie die, die das Streben nach Licht bereits aufgegeben hatten.

      Auf eine dieser Wohnungen deutete jetzt Laçao und tänzelte behände um die rosafarbene Pfütze aus dem Abwasser einer nahe gelegenen Färberei herum.

      „Nun erzähl schon“, sagte er. „Wie ist Aupy? Ist er so genial, wie man sagt?“

      Wortlos schob Tisson sein Véloziped durch die Lache, betrachtete sein bespritzten Hosenbeine, schob weiter.

      „Er ist zwei Jahre jünger als ich. Und er will Bordeaux zur besten Klinik Frankreichs machen.“

      „Dann bist du ja genau richtig bei ihm.“

      „Ich nehme an“, fuhr Tisson fort, „wenn ich stets seine Anweisungen befolge, dann widmet er mir in seinen Memoiren eine Fußnote.“

      „Wie immer: die Ungeduld in Person“, sagte Laçao.

      „Was ist daran ungeduldig, wenn ich nicht jedes Mal quer durch die Hospitalanlage marschieren möchte, um meinen Professor zu sehen, ganz zu schweigen von den Patientinnen?“

      Sie betraten einen Hinterhof. Tisson lehnte sein Fahrrad gegen eine Hauswand und nahm den Arztkoffer von der Lenkstange.

      „Hier kannst du jedenfalls zupacken“, sagte Laçao und stieg die Treppe hinauf. „Es handelt sich vermutlich um Diphtherie.“

      Von

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