Die Leiden des Henri Debras. Maike Braun
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Читать онлайн книгу Die Leiden des Henri Debras - Maike Braun страница 6
„Und die Wäschekammer.“ Sie lächelte. „Wir haben die Arrestzelle für sie frei geräumt. Ein Schreibtisch und ein Regal sind schon drin.“
„In der Arrestzelle?“
„In der ehemalige Arrestzelle, jetzt Ihrem Arbeitszimmer. Das Schloss habe ich entfernen lassen. Sie können also nicht von außen eingeschlossen werden.“
„Das liegt auf der anderen Seite des Hospitals. Das ist meilenweit vom Professor entfernt. Weiß er davon?“
„Der Professor befasst sich nicht mit Nebensächlichkeiten. Ich schlage vor, Sie beziehen Ihr Zimmer – bevor jemand anderes auf die Idee kommt.“
Tisson presste seine Tasche gegen den Leib und eilte durch den Garten, stieg die Treppen hinauf, durchquerte die Männerstation, schloss die Tür am Ende der Station auf, betrat den winzigen Vorraum und stieß die eisenbeschlagene Tür der ehemaligen Arrestzelle auf.
Ein Schreibtisch, ein Regal und Gitter vor den Fenstern. So also sah sein Zimmer im modernsten Hospital Frankreichs aus. Hier also sollte er die Wissenschaft vorantreiben, seine Entdeckungen machen, den Ruhm der Schule Bordeaux’ begründen. Er trat ans Fenster. Es stank nach Bleichlauge. Im Gebäude gegenüber war die Wäscherei untergebracht.
Tisson wischte den Staub vom Schreibtisch, holte einen Bogen Papier aus seinem Ranzen und schrieb an Lantier.
Lieber Doktor,
mein erster Tag als Assistent von Professor Aupy ist vorüber. Abgesehen von einer Rüge seitens des Professors, ich solle mich bitteschön nicht mit männlichen Patienten abgeben, einer Vorlesung, in der ich mich vor allem durch Mitgefühl für die Patientinnen statt wissenschaftlicher Neugier auszeichnete, und einer ehemaligen Arrestzelle als Arbeitszimmer, verlief der Tag ohne nennenswerte Zwischenfälle.
Er strich das Wort Rüge durch, das klang zu streng, schrieb Hinweis stattdessen, las den Brief noch einmal, ersetzte Arrestzelle durch Besenkammer. Auch das klang zu dramatisch. Er zerknüllte den Brief. Lantier würde ihn beim nächsten Besuch darauf hinweisen, dass er als Landarzt über eine ganze Villa verfügen könnte.
Tisson nahm einen neuen Bogen, als es an der Tür klopfte.
„Herein“, sagte er und fuhr mit der Feder über das Blatt. Es blieb blank. Er schüttelte den Federhalter. Nur ein Kratzen.
Wieder klopfte es.
„So kommen Sie doch herein.“
Als es ein drittes Mal klopfte und niemand eintrat, marschierte Tisson zur Tür und riss sie auf.
Vor ihm stand Henri Debra.
Kapitel 2
Der Doktor hat ein grobes Gesicht, ein gutes Gesicht. Seine Hände packen zu, halten fest. Das mag ich.
Er fragt, was mich hierher bringt und schraubt seinen Federhalter auseinander. Er füllt ihn mit schwarzem Blut. Dann setzte er den Deckel wieder auf. So etwas habe ich noch nie gesehen.
„Was ist das?“, frage ich und deute auf das seltsame Schreibgerät.
Ein Lächeln spaltet das breite Gesicht des Doktors.
„Eine ganz neue Erfindung“, sagt er. Ein Geschenk von einem guten Freund, der viel herumkommt.“
Ich komme auch viel herum. Mehr als mir lieb ist.
Man brauche die Feder nicht ständig in Tinte zu tauchen, erklärt er. „Der Füller trägt gewissermaßen sein Tintenfass mit sich.“
Eine schöne Idee: alles bei sich zu haben, das man braucht. Er reicht mir den Federhalter. Ich schüttele den Kopf.
„Ich kann nicht schreiben.“
Außerdem habe ich Angst, dass sich das Ding von mir nicht zähmen lässt, mit mir macht, was es will.
„Das kann man lernen“, sagt er und wie zum Beweis wird die Feder lebendig, rast über die Seite, zuckt wie ein Dämon.
Er legt den Füller wieder zur Seite. Ich stoße ihn mit dem Finger an. Er rührt sich nicht.
Ich möchte ihm von meiner Unrast erzählen. Davon, dass sich meine Brust anfühlt wie eine aufgezogene Spiralfeder, bevor mich der Dieb packt.
Doch ich sage: „Ich habe gesehen, wie Sie hier eingezogen sind. Auf der Männerstation. Bleiben Sie lange?“
„Wer weiß, jetzt vielleicht schon. Wurde Ihre Krankengeschichte bereits aufgenommen?“
Ich weiß nicht, was er meint.
„Dann machen wir das jetzt“, sagt er und schlägt eine frische Seite in seinem Notizbuch auf.
Er fragt mich nach meinem Namen. Ich nenne ihn. Er fragt mich nach meinem Beruf, meiner Adresse. Ich nenne sie ihm. Er fragt nach meinem Alter.
Ich erinnere mich nicht daran. Nicht an mein Geburtsjahr, nicht an den Monat und nicht an den Tag.
„Vielleicht fällt es Ihnen später ein.“
Er hat sanfte Augen, als er das sagt.
Er fragt mich nach meinen Vater, ich mag nicht darüber reden. Nach meiner Mutter, wie sie im Bett lag, die Hände gefaltet, und das letzte Sakrament erhielt. Ich sehe sie vor mir in diesem Moment, ihr zartes Lächeln wie der erste Frühlingswind. Ich erzähle ihm davon.
Der Doktor nickt, seine Augen sind fast geschlossen. Hört er noch zu? Das Schreibgerät schläft auf dem Tisch.
Als ich ihm von meinen Kopfschmerzen berichte, richtet er sich auf.
„Sprechen Sie weiter. Was passiert als nächstes?“
„Die Welt verschwindet. Ich verschwinde.“
Er hakt nach. Seine Feder duckt sich über dem Blatt wie eine Spinne vor dem Absprung.
„Ich stehe in unserer Straße vor dem Gemüseladen“, erkläre ich. „Links davon befindet sich der Hutmacher, rechts der Fleischer.“
Er nickt mir aufmunternd zu.
Ich erzähle, wie die Welt von den Rändern her aufgefressen wird, bis sie sich ganz auflöst.
Er schaut mich an. Ich sehe den Unglauben in seinen Augen. Er hält mich für einen Schwindler.
Er kann es nicht verstehen. Er gehört hierher. Mit seinem neuartigen Federhalter. Er gehört in dieses Hospital mit den dicken Mauern und dem schönen Garten, an diese Schreibtisch, selbst wenn er staubig ist. Ihn treibt nichts davon.
„Henri“, sagt er und seine Stimme klingt wie das Summen von Bienen an einem Lavendelstrauch. Ich soll ihm ganz genau erzählen, was passiert. Vielleicht kann er mir doch helfen.
„Es ist nichts mehr da“, sage