Die Leiden des Henri Debras. Maike Braun

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Die Leiden des Henri Debras - Maike Braun

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dem Handballen der anderen drückte er gegen den Unterkiefer. Der Mann wurde rot, burgunderrot, violett. Dann schluckte er.

      „Braver Junge“, sagte Aupy und wischte sich die Hände an einem Handtuch ab, das ihm die Schwester reichte.

      Sie solle ihn noch eine Weile angeschnallt lassen und die verabreichte Dosis notieren. Aupy zog einen Spiegel aus der Tasche und zog sich den Scheitel nach. Dann eilte zum nächsten Bett, Tisson hinterher.

      „Passiert das häufiger?“, fragte er.

      „Wenn ihm der Sirup nicht süß genug ist“, meinte Aupy, während er das Krankenblatt des nächsten Patienten überflog.

      Tisson bemerkte einen Mann, Mitte zwanzig, der auf dem Stuhl neben seinem Bett saß. Er trug Straßenkleidung, in seinen Händen drehte er eine Mütze.

      „Wer ist das?“, fragte er.

      „Henri Debra. Er wurde in der Nähe von Konstantinopel aufgelesen und hat keine Ahnung, wie er dorthin kam“, erklärte Aupy und hastete zum Ausgang. „Lassen Sie uns lieber zu den Frauen gehen, das ist wesentlich interessanter. Hier gibt es sonst nur noch ein paar Kopfverletzungen und Schwachsinnige.“

      Tisson folgte ihm, als der Mann mit der Mütze auf sie zukam. Er griff nach Aupys Hand. Der wich einen Schritt zurück.

      „Herr Professor“, rief der Mann, „bitte helfen Sie mir. Ich bin nicht wie die anderen hier.“ Er deutete mit dem Kopf in Richtung des Tabes-Patienten.

      „Schon gut, schon gut“, sagte Aupy. „Schwester Pauline wird sich um Sie kümmern.“

      Sofort eilte die Schwester herbei, legte eine Hand auf Henris Arm. Der Mann senkte den Kopf.

      „Ich kann ihn mir anschauen“, sagte Tisson und ging einen Schritt auf Henri zu.

      „Später, mein Lieber, später“, meinte Aupy und ging weiter.

      Tisson eilte dem Professor nach. Der Patient wollte ihm folgen, doch die Schwester hielt ihn zurück.

      „Bitte, Herr Doktor, ich bin nicht verrückt“, rief er Tisson hinterher.

      Der drehte sich noch einmal nach dem Mann um. Gern hätte er etwas Tröstendes gesagt, ihm aufmunternd zugenickt, doch die Schwester hatte ihn bereits zu seinem Bett zurückgeführt.

      „Für den Patienten mögen Sie schon Doktor sein“, sagte Aupy auf dem Korridor, wischte sich eine Strähne und das Lächeln aus dem Gesicht, „aber für mich sind Sie das noch lange nicht.“

      „Ich wollte nicht voreilig erscheinen“, sagte Tisson. „Der Mann schien mir interessant. Was ist über ihn bekannt?“

      „Ich vermute: Epileptiker“, sagte Aupy. „Sein Vater starb an Hirnerweichung. Es scheint in der Familie zu liegen.“

      Tisson folgte Aupy die Treppe hinunter und einen weiteren Gang entlang.

      „Ich würde mir den Mann gern genauer anschauen“, beharrte er.

      „Ich dachte, Sie sind hier, um die Hysterie zu studieren? Da werden Sie bei Männern nicht viel Glück haben.“

      „Ich weiß“, sagte Tisson. „Aber Sie behandeln doch auch andere Nervenleiden.“

      „Aber meine Forschung gilt der Hysterie. Und die meiner Studenten ebenso.“

      Aupy hastete weiter den Korridor entlang.

      “Wohin gehen wir?“, fragte Tisson.

      Aupy blieb abrupt stehen. „Werden Sie mir jetzt den ganzen Tag nachlaufen wie eines dieser Schoßhündchen, die gerade bei der Damenwelt so in Mode gekommen sind?“

      Tisson stieß die Luft aus. Dies war sein erster Tag. Er war auf die Unterstützung des Professors angewiesen.

      „Ja, schon gut. Kommen Sie mit. Ich will sowieso noch einmal mein Manuskript für die Vorlesung durchgehen.“

      Sie verließen das Gebäude, eilten durch den Garten. Aupys Arbeitszimmer befand sich am Kopfende der Frauenstation auf der Westseite des Hospitals.

      Tisson hatte sich das Untersuchungszimmer des Professors anders vorgestellt. Zwar gab es einen Tisch mit einigen Glasbehältern und Tiegeln, einem Mikroskop, vor allem aber gab es Bücher. Handbreite, griffeldünne, in Leder eingebundene, Atlanten, Pamphlete, Zeitschriften, alle nebeneinander eingepasst wie Ziegel eines Fachwerkshaus. Tisson sog die Luft ein. So viele Bücher und alle unter seinen Fingerspitzen. Er strich über Lederrücken, betastete Goldlettern. Über das Wesen und die Behandlung der Hysterie, las er. Charakteristik und Symptomatologie der Hysterie, Hypochondrie und Hysterie: Enthüllungen über die Natur derselben, Die Hysterie und ihre Heilung. Er zog den letzten Band heraus, schlug ihn auf. Das schwere Papier lag rau unter seinen Fingern.

      Die Hysterie, stand dort, sei eine schwer zu fassende Krankheit. Sie wandle ständig ihre Gestalt und finde neue Ausdrucksformen. Deswegen, so las Tisson weiter, sei es von allergrößter Bedeutung, die Hysterie in ihren mannigfaltigen Erscheinungsformen als solche zu erkennen.

      Tisson seufzte. Es gab noch viel zu lernen.

      „Hören Sie auf, so zu schnauben.“

      Tisson drehte sich um. Aupy kratzte mit seiner Feder über das Papier, als hätte er nichts gesagt.

      Tisson ertappte sich dabei, wie er langsam die Luft durch den Mund entweichen ließ. Er stellte das Buch zurück und betrachtete die Zeichnungen an der anderen Wand. Eine Kopie des Synoptischen Tableaus des großen, vollständigen und regelmäßigen hysterischen Anfalls von Richer. Man sah Miniaturen von Frauen mit verrenkten Körpern, die Arme hinter dem Rücken verknotet, den Kopf zurückgeworfen, den Leib aufgebäumt. Alle Posen waren einem der vier Stadien der Hysterie gemäß Charcot, dem Meister der Nervenheilkunde, zugeordnet.

      Tisson kannte das Klassifizierungsschema auswendig.

      „Muskelzuckungen, Konvulsionen des gesamten Körpers, leidenschaftliche Gebärden und schließlich Delirium“, sagte er und warf einen Blick über die Schulter auf Aupy, der immer noch schrieb.

      Tisson studierte die Photographie neben dem Tableau. Sie zeigte eine mit einem Anstaltshemd bekleidete Frau, die sich in ihrem Bett aufbäumte. Nur der Kopf und ihre Füße berührten die Matratze.

      „Bisher konnte niemand diesen arc-en-ciel, dieses Aufbäumen, außerhalb der Salpêtrière in Paris beobachten“, murmelte er.

      „Das wird sich jetzt ändern.“ Aupy warf den Federhalter aus der Hand und sprang auf. „Deswegen bin ich zurück nach Bordeaux gekommen. Ich werde Charcots Methoden hier einführen. Sie haben von der Pariser Schule gehört? Von der Salpêtrière, diesem Moloch von einem Krankenhaus?“ Er befeuchtete sich die Fingerspitzen mit der Zunge und zwirbelte die Enden seines Schnurrbartes. „Bald schon wird alle Welt von der Schule Bordeaux’ sprechen.“

      Aupy nahm ein Manuskript von einem Stapel Unterlagen und hielt es hoch. „Wir werden die Wissenschaft vorantreiben. Im modernsten Hospital, mit den modernsten Methoden. Uns wird gelingen, was keiner zuvor vermochte.“

      Er ging um den Schreibtisch herum, tippte sich an die Schläfe und flüsterte: „Wir

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