Die Leiden des Henri Debras. Maike Braun
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Читать онлайн книгу Die Leiden des Henri Debras - Maike Braun страница 5
Er lehnte sich zurück, damit sie ihn nicht länger sehen konnte. Nach einer Weile schielte er erneut zur Seite, sah das Profil des Mädchens neben ihm, wie es Aupy fixierte. Er beugte sich weiter vor und warf ihr, am Ende der Reihe, einen Blick zu, schnell, flüchtig. Sie beachtete ihn nicht. Sie hatte nur Augen für Aupy. Wie alle anderen.
Der rief die Patientin auf dem Platz direkt neben Tisson auf. Tisson bot ihr seinen Arm an, sie ignorierte ihn. Er setzte sich wieder, vermeinte den Lufthauch eines Lächelns auf seiner Wange zu spüren, wandte sich dem Mädchen am Ende der Reihe zu – nichts. Ihr Blick stur geradeaus, ins Gesicht gemeißelt.
Währenddessen ließ Aupy seine Patientin vor dem Pult auf und ab gehen. Sie zog das linke Bein nach. Ein Arm hing schlaff herab.
„Einseitige Lähmungserscheinungen“, erklärte er, hob die linke Hand des Mädchens und ließ das Gelenk plötzlich wieder los. Mit einem dumpfen Laut schlug der Arm gegen den Rock. Aupy trat von hinten an die Patientin heran und schnippte an ihrem linken Ohr. Keine Reaktion. Am rechten sofort.
„Gepaart mit linksseitiger Taubheit“, dozierte er weiter und kehrte ans Rednerpult zurück. Verloren stand die Patientin im Raum.
Tisson führte sie schließlich zum Platz zurück. Aus den Augenwinkeln nahm er erneut ein Zwinkern war. Er zwang sich, geradeaus zu sehen. So einfach ließ er sich nicht narren. Sanft drückte er seine Begleiterin auf den Stuhl hinab. Sie faltete die Hände im Schoß und heftete ihren Blick auf Aupy.
Der rief die nächste Patientin auf und schickte Tisson, die Farbtafeln zu holen.
Dieses Mal wandte Tisson den Kopf, doch das Mädchen mit dem roten Mund schien ihn nicht wahrzunehmen. Das Lächeln verschwunden, weggewischt. Eine Täuschung? Die Lippen leicht nach oben gebogen. Fährten eines Lächelns?
Während Aupy das eingeschränkte Sehvermögen des zweiten Mädchens demonstrierte, links sah es nur schmutziges Grau, rechts funkte und blitzte es am Rande des Gesichtsfeldes, versuchte Tisson den Blick des geheimnisvollen Mädchens zu erhaschen. Doch sie ließ sich nicht ablenken. Jeder Augenblick galt Aupy, die Miene entspannt, sich ihrer Sache gewiss.
„Arlette, treten Sie bitte vor“, sagte Aupy.
Sie erhob sich. Glitt über den Boden, ein Flattern in den Mundwinkeln, kaum sichtbar, vielleicht nicht einmal ihr selbst bewusst.
Tisson konzentrierte sich auf Aupys Vortrag.
„Arlette leidet unter einer Reihe von Symptomen. Erstickungsgefühle, Augenmigräne und einer besonders ausgeprägten Form der hysterischen Anästhesie oder des stark verminderten Schmerzempfindens.“
Aupy ging auf Arlette zu. Knöpfte den rechten Ärmel ihres Kleides auf und rollte ihn nach oben. Seine Finger verweilten einen Moment auf ihrem Unterarm. Arlette blickte auf. Er zog die Hand zurück.
Das Mädchen wirkte gelassen, ja heiter. Die Vorahnung eines Lächelns, das sich jedoch durch nichts festmachen ließ. Die Lippen einen Spalt geöffnet.
Aupy bat Tisson um eine Nadel. Die Studenten beugten sich auf ihren Stühlen vor. Tisson brachte ihm ein mit Samt beschlagenes Kästchen, das mehrere fußlange Nadeln enthielt.
Da war es wieder. Er hatte es gesehen. Arlette hatte gelächelt, kurz nur, als sie die Nadeln sah, aber es war eindeutig ein Lächeln gewesen. Dieses Mal war sich Tisson sicher.
Aupy blickte Arlette direkt in die Augen. Dann nahm er die Nadel und berührte ihren entblößten Unterarm.
Arlette blinzelte. Aupy hob erneut die Nadel an – und stach sie durch Arlettes Arm.
Tisson stieß einen Schrei aus. Ein Stuhl polterte zu Boden. Der Rotschopf sprang herbei, reckte den Kopf über Arlettes Arm.
Und Arlette lächelte. Offen. Sichtbar.
Den Blick fest an Aupy geheftet. Doppelgestirn, um das die Welt rotierte. Die Nadel als Achse. Quer durch das Fleisch. Tisson war es, als spüre er den Stich in seiner eigenen Brust.
Der Rotschopf streckte die Finger nach der Wunde aus. Suchte nach Blut. Es kam keines.
Tisson wischte seine Hand zur Seite. Der Rotschopf zuckte zusammen. Stierte ihn an. Maß ihn mit den Augen. Wich zurück.
Mit einem Ruck zog Aupy die Nadel wieder heraus. Entließ Arlette aus seinem Blick. Strich sich über den Schnurrbart und ermahnte seine Zuhörer zur Ruhe.
Er trommelte gegen das Pult, während die Studenten wieder ihre Plätze einnahmen. Arlettes Blick war ausdruckslos, wie zuvor, wie der ihrer Gefährtinnen, erloschen.
Aupy sprach: „Sie sehen also: Die Hysterie kann sehr viele Formen annehmen und zu erstaunlichen Resultaten führen.“ Er bedeutete Tisson, die Patienten wieder hinaus zu bringen.
Zurück in seinem Arbeitszimmer fragte Aupy Tisson, wie ihm die Darstellung gefallen habe.
Tisson dachte an Arlettes lächelndes und doch nicht lächelndes Gesicht und suchte nach einer geeigneten Antwort, als Aupy fortfuhr: „Die heutige Demonstration war erst der Anfang. Wir werden jede Woche neue Fälle vorstellen, Statistiken aushängen, Hysterische in den verschiedenen Stadien eines Anfalls vergleichen.“
Er schob die Hand unter seine Weste, die Lider halb geschlossen.
„Die Schule Bordeaux’. Das klingt gut, finden Sie nicht? Ich werde für Bordeaux sein, was Charcot für Paris ist. Sind Sie bereit dazuzugehören?“
Tisson nickte.
„War ja auch nicht anders zu erwarten.“
Er solle sich von Schwester Marguerite die Krankenakten der Frauenstation geben lassen und sie studieren. Wenn er damit fertig sei, könne er wieder kommen und Bericht erstatten.
„Worauf warten Sie? Ich bin beschäftigt. Gehen Sie, gehen Sie.“
„Ich habe noch kein Arbeitszimmer.“
„Kein Arbeitszimmer, kein Arbeitszimmer. Fragen Sie Schwester Marguerite, die kümmert sich darum.“
Tisson betrat die Frauenstation. Schwester Marguerite sei gerade im Keller bei den Unheilbaren, er solle später wieder kommen. Er versuchte zu erklären, dass das nicht ginge, da er nicht wissen, wo er sich in der Zwischenzeit aufhalten solle.
„Es ist schönes Wetter. Gehen Sie in den Garten“, sagte die Schwester. „Hier können Sie jedenfalls nicht bleiben.“ Man habe schon genug Ärger mit herumstreunenden Stallburschen.
„Ich verstehe“, sagte Tisson. Aber er sei kein Stallbursche, sondern der neue Assistent des Professors und als solcher benötige er ein Arbeitszimmer.
In diesem Moment hörte er eine Stimme, von der er nicht sagen konnte, ob sie zu einer Frau oder einem Mann gehörte. „Wer sind Sie? Was wollen Sie hier?“
Eine Schwester, das Gesicht wie das Gewand in graue Falten gelegt, stand vor ihm. Ihre buschigen Augenbrauen schoben sich aufeinander zu wie zum Kampf zweier Raupen.
Er stellte sich vor. Die Raupen entspannten sich.
„Ihr Arbeitszimmer