Die Leiden des Henri Debras. Maike Braun

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Die Leiden des Henri Debras - Maike Braun

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der Haut, im Auge, im Darm: All das ließ ihn unberührt. Aber wenn Laçao das Skalpell an eine Kehle setzte, um einen Luftröhrenschnitt durchzuführen, kam Tisson das jedes Mal wie Mord vor. Und oft endete es auch mit dem Tod. Der Patient starb Laçao unter den Händen weg oder ein paar Tage später an Wundfieber. So viele Jahre hatte sein Freund gelernt, so viele Jahre er. So viele Jahre waren vergangen, seit ihn seine Schwester um Hilfe angefleht und er so kläglich versagt hatte. Seit er seine Mutter kalt im Bett vorgefunden hatte, als er mit dem Landarzt zurückkam. Und noch immer verlor die Medizin die Hälfte der Zeit den Kampf gegen den Tod.

      „Die solltest dein Talent der Erforschung der Diphtherie widmen“, sagte Tisson, „statt noch mehr Patienten durch einen Luftröhrenschnitt zu verlieren.“

      „Wer redet denn von verlieren?“, sagte Laçao und klopfte an die Tür.

      Ein großer, ausgemergelter Mann öffnete. Der Familienvater und wohl der Einzige, der sich noch auf den Beinen halten konnte, vermutete Tisson.

      Während Laçao sich von dem Mann die Lage schildern ließ, sah Tisson sich in der Wohnung um. Sie war typisch für das gesamte Viertel. Der Korridor verlief rechts über die gesamte Länge der Wohnung hinweg. Drei Zimmer waren vom Gang aus zugänglich: die Küche, die zum Hof lag, die zur Straße gehende Stube und das Zimmer dazwischen, das fensterlos war und als Schlafzimmer diente. In diesem Fall war das Bettgestell in die Stube geschoben worden. Die Frau sei die Sonne Portugals gewöhnt, erklärte der Mann Tisson in gebrochenem Französisch, als ob er sich von ihm, dem Franzosen, Abhilfe verspreche.

      Sie lag, ein Kleinkind im Arm, nur mit einem dünnen Tuch zugedeckt, auf dem Bett und strich dem Kind übers Haar. Ein ständiges Pfeifen begleitete dessen Atmung. Tisson zupfte Laçao am Ärmel.

      „Das Kind“, flüsterte er ihm zu.

      Laçao nickte und zog einen Spatel aus seinem Arztkoffer. Er bedeutete der Mutter sich auf einen Stuhl am Fenster zu setzen. Sie wartete, bis der Vater das Kind nahm. Dann stieg sie aus dem Bett. Laçao rückte sie ins Licht, das selbst um diese Tageszeit nur ein müdes Grau war und beugte sich über die Frau. Das Kind keuchte. Die Mutter zuckte zusammen.

      „Joaquin, der Kleine hat nicht mehr viel Zeit“, ermahnte Tisson seinen Freund und hielt eine Hand vor den Mund des Jungen. Gerade noch spürte er den Hauch von Wärme, die den Jungen bei jedem Atemzug verließ.

      „Solange er pfeift, brauchst du dir keine Sorgen zu machen.“

      Laçao schabte weiter den Rachen der Mutter aus. Sie blieb bemerkenswert ruhig. Immer wieder warf sie einen Blick auf das Kind, das sich furchtsam an seinen Vater klammerte.

      Mutterliebe, dachte Tisson. Sie würde sich wahrscheinlich bei lebendigem Leib das Herz herausreißen lassen und nicht schreien, nur um ihr Kind nicht zu ängstigen.

      „Willst du auch mal?“, fragte Laçao und wischte den Spatel an einem Lappen ab.

      Tisson beugte sich über die Frau. Ihre Haare klebten wie ein zerrissenes Spinnennetz an ihrem Gesicht. Ein faulig-süßer Geruch schlug ihm entgegen. „Ich sehe nichts. Wie kannst du so arbeiten?“

      Laçao ging zur Kommode und zündete die Petroleumlampe an. Dann leuchtete er damit so gut es ging den Rachen der Frau aus. „Siehst du das linke Gaumensegel?“ sagte er. „Die Bläschen? Den weißlichen Belag? Das muss alles weg.“ Er trat zur Seite und löschte die Lampe. Tisson warf ihm einen fragenden Blick zu.

      „Du wirst nicht immer jemanden dabei haben, der dir ein Licht hält.“

      Tisson seufzte. Manchmal nahm es Laçao zu streng mit seiner Ausbildung.

      „Willst du mit dem Jungen weitermachen?“, fragte Laçao, als Tisson fertig war.

      Tisson schüttelte den Kopf. Keine Kinder. Jedenfalls nicht zum Üben.

      Laçao rollte das Betttuch zusammen und stopfte es dem Kind unter den Nacken, um besseren Zugang zum Rachenraum zu erhalten. Die Mutter bat er, den Jungen an den Händen festzuhalten. Dann begann er mit der Ausschabung. Der Vater trat an die Kopfseite des Bettes und begann mit leiser Stimme auf das Kind einzureden. Dabei blockierte er das wenige Licht. Tisson nahm ihn am Arm, führte ihn in die Küche, deutete auf die kalten Kohlen, auf den leeren Eimer. „Wasser, warmes Wasser“, sagte er immer wieder, bis der Mann schließlich begriff, und mit dem Eimer die Treppe hinunterlief.

      Als er in die Stube zurückkehrte, wiegte die Mutter das Kind bereits wieder in den Armen. Tisson begann, die Instrumente zu reinigen.

      Laçao erklärte dem Mann etwas auf Portugiesisch. Dann drehte er sich zu Tisson um. „Wie wär’s mit Mittagessen?“

      „Wie kannst du nur so schnell abschalten?“, fragte Tisson. Er hatte zwar als Schiffarztgehilfe auf der Dahomé so manches erlebt, aber das war etwas anderes gewesen. Die Besatzung war bis auf die französischen Offiziere schwarz gewesen. Schwarz mit Narben im Gesicht wie Schriftzeichen. Schriftzeichen, die er nicht entziffern konnten. Mit einer Sprache, die wie das Hacken einer Machete klang. Die Männer waren ihm immer fremd geblieben. Dann die Sonne, die einem den Verstand ausdörrte, der Gestank, die Ratten, der Skorbut, der Durchfall. Auf der Dahomé war der Tod ein ständiger Begleiter gewesen.

      Das hier aber war Bordeaux. Die Menschen lebten in getünchten Häusern. Die Familienmitglieder trugen Kleider, schliefen in Betten. Sie tranken Wein oder Wasser, auf jeden Fall aus Gläsern. Man konnte Menschen auf Photographien bannen, es gab Gaslampen, Telegraphen. Durch Frankreich rasten täglich Dampflokomotiven. Was hatte der Tod hier noch zu suchen?

      Laçao winkte ihn zum Fenster.

      „Schau hinaus“, sagte Laçao. „Der Regen hat aufgehört, die Spatzen zirpen, Mutter und Kind werden durchkommen. Wieso soll ich mich nicht freuen?“

      Tisson schüttelte den Kopf. Er fand, sein Freund mache es sich zu einfach. Zu oft schon hatten diesen Streit gehabt. „Außerdem“, fügte Laçao hinzu, als sie auf die Straße traten, „ist die neue Bedienung im Le Canard wirklich niedlich.“

      Tisson stieß die Luft aus. „Was ist mit der Tänzerin?“

      „Zu mager geworden“, antwortete Laçao und zupfte sich vor einer Fensterscheibe die Krawatte zurecht.

      „Wann lässt du diese Spielchen?“, gab Tisson zurück. Er dachte an seine Schwester, die ihrer Liebe in die Normandie gefolgt war und sich jetzt in einer Dorfschule von einem Tag zum anderen rettete, weil der Kerl eine reiche Witwe geheiratet hatte.

      Laçao strich den Oberlippenbart glatt. „Das sind keine Spielchen. Das nennt man Leben, mein guter Freund. Und du solltest auch damit beginnen.“

      „Der Mensch hat auch einen Kopf. Was ist damit?“

      „Du machst dir etwas vor“, antwortete Laçao. „Du setzt dir ein hehres Ziel: die Wissenschaft, die Wahrheit“, er beschrieb mit der Hand einen Bogen in der Luft, „und übersiehst die wesentlichen Dinge dabei, die viel kleiner, viel unscheinbarer sind.“

      „Das glaube ich nicht“, unterbrach ihn Tisson. „Es ist doch eher so, dass der Mensch meist nicht so hoch springt, wie das von ihm gesteckte Ziel. Und wenn er es zu niedrig setzt, muss er am Ende darunter hindurch kriechen.“

      „Und wenn er vor lauter Zielstrebigkeit vergisst, sich um sein leibliches Wohl zu kümmern, springt er bald gar nicht mehr“, sagte Laçao und ging auf das Lokal am Ende der Straße zu.

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