Unbewältigte Vergangenheit. Henry Kahesch
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Gestern hatte Kriminaloberrat Scholtysek mal wieder eine Aussprache mit seiner Frau Renate. Schon mehr als zwei Jahre ging sie ihren eigenen Weg. Auf der einen Seite störte es ihn, auf der anderen war er eh meist im Dienst. Etwas stand immer im Weg, was ihn von seiner Familie fern hielt, stellte er selbstkritisch fest. Nach dem Abitur gingen die beiden Kinder zum Studium außer Haus. Die Tochter nach Berlin, wo sie Germanistik studierte und der Sohn nach Mannheim zum Studium der Wirtschaftswissenschaften. Reflektierend meinte er, dass er einen hohen Tribut zollte, es ging ihm durch den Kopf, dass er seine Kinder sehr selten sah. Sowohl in der Kindheit als auch in ihrer Jugend. In der Frühe waren sie meist noch im Bett und abends, wenn er nach Hause kam, bereits wieder. Da blieben nur die Wochenenden, die überdies ebenfalls häufig mit Polizeiarbeiten gespickt waren. Das eine oder andere Jahr mussten auch die Sommerferien darunter leiden, die gänzlich ausfielen, als der Neubau sie forderte, ja beinahe überforderte. Irgendwie konnte er auch nachvollziehen, dass deshalb die Ehe und Familie brüchig wurde, nicht mehr in Takt war. Einige Male dachte er über Scheidung nach. Aber Renate, seine Frau, wollte davon nichts wissen. Es änderte sich deshalb bis heute nichts. Wirklich sauer auf seine Frau, dass war ihm wichtig, konnte er nicht ernsthaft sein. Zwar hatte sie sich seinerzeit mit einem anderen Mann getroffen, ihm auch erzählt, dass es ein früherer Arbeitskollege gewesen sei, aber er war letztendlich der Auslöser. Er war nie da! Auch gestern stritten sie sich, wie so häufig. Danach schloss sich zwar ein Gespräch an, zu Beginn auch durchaus konstruktiv, aber mal wieder ergebnislos. Vielleicht sei es ja besser, wenn er auch seiner Wege ginge, suggerierte er sich mal wieder. Erschwerend kam hinzu, dass er lange Wochen nach dem ersten Zoff mit seiner Frau, rein zufällig erfuhr, dass es damals gar kein Arbeitskollege gewesen war. Diese Nachricht erschwerte die Situation erheblich, insofern war hier nichts mehr zu kitten.
An dem Vormittag trat der Kriminaloberrat, obwohl er gestern spät aus dem Präsidium ging, besonders früh in sein Büro. Das hatte nicht nur mit der vielen Arbeit zu tun, sondern auch mit der Flucht vor dem Zuhause. Aber so früh konnte er gar nicht sein, dass er seiner Sekretärin zuvorkam. Die war immer die Erste und begrüßte ihn heute, wie jeden Tag, mit einem freundlichen guten Morgen Herr Kriminaloberrat. Ihre stets gute Laune passte geradezu ideal in den tristen Alltag der Kriminalen. Eine Tasse Kaffee hielt sie, wie täglich, in der Hand und stellte diese rechts vor ihn auf den Schreibtisch. Über die Jahre war dies zum Ritual geworden. Ruth Ofenloch war unverheiratet und ihr Chef Teil ihrer Familie. Er drehte den Sessel und setzte sich.
„Danke Frau Ofenloch. Sind eigentlich Anrufe oder Mails für mich da?“, lächelte er sie, nun etwas ausgeschlafener als zuvor, an. Wie jeden Morgen, das war ihr wichtig, so hatte sie auch heute die Mails längst ausgedruckt, sortiert und mit anderer Post vorbereitet. Denn bevor sie die Treppe im Präsidium nach oben ging, war ihr erster Weg stets zum Briefkasten. Den leerte sie und sortierte die Post, die direkt für ihren Chef bestimmt war, in dessen Postmappe. Mit ihren hübschen Fingern zeigte sie auf die Postmappe und sagte: „Ja, einige Nachrichten liegen hier drin. Überdies He.....“, sie machte eine kleine Pause, „schauen sie mal in das Rügener Wochenblatt.“
„Warum so eilig? Was Besonderes?“ Doch bevor er auf Antwort wartete, sagte er: „Sagen sie bitte nicht so förmlich Herr Kriminaloberrat. Dafür kennen wir uns schon so lange und haben schließlich ein kollegiales Verhältnis. Oder?“
Oft hatte er sich vorgenommen, dies mal zu äußern, aber kurz vor dem „Ziel“ verließ ihn schließlich stets der Mut! Und jetzt hatte er es geschafft, endgültig. Es war ihm wichtig es mal los zu werden. Frau Ofenloch ging darauf zwar nicht ein, lächelte aber dankbar. „Kann man so sagen“, erwiderte sie nun mit ernster Miene. Dann gab sie, um ihn nicht länger auf die Folter zu spannen, den Hinweis, doch mal unter der Rubrik Granitz nachzuschlagen.
„Im Regionalteil“, fügte sie an. Er schlug die entsprechende Seite auf und las in großen Lettern: „Großschlägerei zwischen zwei Banden. Die Polizei musste eingreifen.“
„Verdammt“, fluchte der KOR, auch das noch, mit Abbildungen von Heller und Meurer. Deren Namen wurden gar erwähnt. Das passt ja absolut nicht in unsere Polizeistrategie. Die wissen doch, dass wir das unbedingt vermeiden wollen. Ist ja wirklich ein dicker Hund! Davon hat der Heller kein Sterbenswörtchen gesagt.“
Scholtysek war voller Zorn, richtig in Rage redete er sich. Das fehlte noch, wo sie im Augenblick einen kritischen Fall wiederbeleben lassen wollten Noch besser, mussten. Da sollte alles unbedingt Top Secret ablaufen. Laut sprach er es allerdings nicht aus. Frau Ofenloch, die unverändert, beinahe aus gewohnter Vertrautheit mit ihm, am Schreibtisch stand, ergriff Partei. Diesmal aber für Heller.
„Wie konnte er? Er fuhr nach Granitz, sie saßen zwar im Büro, aber dann war es doch viel zu spät. Überdies konnte er sicher nicht ahnen, dass es so eskalieren würde.“
„Ja, sie haben ja recht. Das konnte er wirklich nicht mehr verhindern“, gab er sich plötzlich betont
versöhnlich.
Ein großen Schiff steuerte in den engen Hafen. Deshalb mussten sie eine Weile warten, bevor sie die Brücke passieren konnten. Sie sahen, wie die alte Klappbrücke sich bewegte und ihre riesigen Fahrbahnbetten mit nach oben zogen. „Auch die alte Technik“, so Chantal mit einem Schalk im Gesicht, „hat ihre Raffinessen.“
Das Ganze dauerte nur wenige Minuten, dann war der Weg für die Weiterfahrt hinüber auf die Insel wieder frei. Gleich waren sie auf der Alleenstraße Richtung Bergen. Es war eine gemütliche Strecke. Frohgemut scherzten und erfreuten sie sich an der schönen Landschaft. Vor allem für Chantal war es ein besonderes Erlebnis. Aus ihrer Heimat kannte sie so viel Grün und die Vielzahl von wunderbaren Bäume nicht. Dort wo sie herkam ist es eher karg und große Grünflächen selten zu entdecken. Bei allem was Südfrankreich sonst an Annehmlichkeiten bietet, das gab es in diesem Ausmaße nicht. Nach der kurzweiligen Fahrt erreichten sie Bergen. Gleich machten sie sich auf in die älteste und bedeutendste Kirche Rügens. Was sie bereits im Reiseführer lasen, konnten sie vorhin an der Touristeninformation nochmals entdecken. Da stand als erstes: Bergen gilt auch heute noch als lebendiger Marktort im Inselzentrum, auf den alle Rügener Bürger stolz sind, so der Nachsatz. Sie staunten nicht schlecht, mit welchem Selbstbewusstsein die Insulaner solche Äußerungen formulierten, sie konnten dies nachvollziehen. Gerade bestiegen sie den Turm der Marienkirche. Schnell glitt ihr Blick, beinahe schon automatisch, über die Dächer der herrlichen Marktstadt. Der Horizont zeigte sich ihnen in dem Moment Grün und Blau. Sie waren fasziniert. Auch, wenn sie zügig weiter wollten, um in Rügen alle Ecken zu erkunden, gönnten sie sich zunächst noch eine gemütliche Tasse Kaffee. „So viel Zeit muss sein“, meinte Chantal und kniff Michel neckisch in den Arm.
Der Weg nach Sellin, ihrem ersten Halt in einem der Seebäder, war in Angriff genommen. An
Granitz