Unbewältigte Vergangenheit. Henry Kahesch

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Unbewältigte Vergangenheit - Henry Kahesch

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ab. Von dort aus schlenderten sie, es waren nur wenige Hundert Meter, zu der berühmten Uferpromenade. Schon von weitem erkannten sie die längste, sicher auch die schönste Seebrücke Rügens. In Gedanken malten sie sich aus, wie sie erst am Abend, wenn alle Lichter strahlten, glänzen würde. Darin waren sie sich einig: sie mussten es unbedingt erleben. Gerade ein kleines Stückchen auf der Uferpromenade flaniert, stach ihnen eine steile Treppe, die hinunter an den Strand führte, ins Auge. Dann standen sie auch schon in dem feinen, hellen Sand, der ihre nackten Füße angenehm umspülte. Das „Meer“ der Strandkörbe war, so schien es, ausnahmslos belegt. Wie gebratene Fische lagen unzählig Menschen in ihren Strandkörben oder auf Sonnenliegen daneben. Da entstand schon der Eindruck, als würden sie in einem glühenden Feuer liegen. Nach einer Weile nahmen sie die Treppe wieder nach oben. Schließlich wollten sie die berühmte Seebrücke besuchen und in dem anmutenden Restaurant, was sehr einladend aussah, gemütlich bei einer Tasse Kaffee und einem Stück Kuchen verweilen. Das noch junge Ehepaar unterhielt sich angeregt. Sie plauderten so intensiv, dass sich die Menschen um sie herum mit großen Augen nach ihnen umdrehten. Manche mokierten sich und brachten mit der ihnen eigenen Mimik, ihr Missfallen zum Ausdruck. Bis auf den letzten Platz war das Restaurant belegt. Ein Kellner, der nicht gerade freundlich wirkte, stand unweit von ihnen. Sollten sie diesen Kerl bitten sie zu bedienen? Anstalten dies zu tun, machte er jedenfalls nicht! Dann trösteten sie sich, dass es solche Menschen überall geben könnte und winkten ihn lässig heran. In müdem, schlaksigem Trott kam er mit genervtem Gesichtsausdruck an ihren Tisch. Ihr Eindruck täuschte sie nicht. Auch, wenn sie mittlerweile versorgt waren und der Kuchen bei gutem Wetter schmeckte, war es ihnen ein Rätsel.

      „Warum ergreift jemand den Beruf eines Kellners, wenn er sich dabei überfordert fühlt, nichts damit anfangen kann?“, setzte Michel nach. Er sagte es nicht ohne Grund, denn dessen unfreundliche Art zeigte sich auch im Umgang mit anderen Gästen auf der Kaffeeterrasse. Ein Gast gab ihm, das konnte er eben beobachten, auch kräftig Kontra. Aber es schien den Burschen kalt zu lassen. Er blieb unbeeindruckt.

      „Unfreundliche Leute in der Region! Was sagst du?“, fragte er jetzt Chantal.

      „Na ja, so ernst sehe ich das nicht“, erwiderte sie. „Und bislang haben wir doch wirklich nette Erfahrungen gemacht! Sicher, hast recht, ein unhöflicher Kerl ist er, scheint aber eher eine Ausnahme zu sein. Aber lassen wir es uns hier oben nicht verdrießen, wäre vertane Zeit, viel zu wertvoll!“

      Michel blieb still, nickte. Auch ihm war bewusst, dass dies nicht passieren durfte. Mit dem Blick hinüber zu den Kreidefelsen, der von dieser Stelle umwerfend war, gelang es sich abzulenken. Voller Begeisterung juchzte er nun: „Wenn du erst den Blick von Binz dort hin richtest, hast du gar ein Panorama par excellence. Eine echte Steigerung“, setzte er fröhlich nach.

      „Da wollen wir doch hin, oder?“, so Chantal!

      „Unbedingt“, mimte er lustig. „Übermorgen, wenn wir uns mit Rudi und seiner Frau treffen.“

      In dem Augenblick stiefelte der Kellner, denn anders konnte man seine Gangart wirklich nicht nennen, in Richtung ihre Tisches. „Der hat wohl den seltsamen Gang, der aussieht als hätte er einen Stock im Kreuz, von früher Kindheit geübt“, gab er sich scherzhaft.

      Und in der Tat, es sah verrückt aus. Die steife Haltung, die Mimik, die unwirsch und verachtenden Blicke die von ihm zu ihnen rüber schwappten, zeigten nur Kühle. Dabei gab er sich beinahe Mühe,

      keine Miene zu verziehen. Guten Service konnten sie dies nicht nennen. Er legte, zunächst wortlos, eine Beleg auf den Tisch. Degoth und seine Frau schauten ihn erwartungsvoll an. Sie rechneten mit einer Erläuterung. Doch die kam nicht. Ihre verdutzten Blicke, die sie sich gegenseitig zuwarfen, machten deutlich, dass es nicht ihre Aufgabe sei das Wort zu ergreifen, eine Erklärung abzugeben. Nein, dass musste der Kellner schon selbst tun. Deshalb ignorierten sie es stillschweigend. Nach kurzem warten brabbelte er vor sich hin, ohne sein Gesicht auf die vor ihm sitzenden Gäste zu richten: „Habe es eilig, bloß kassieren.“ Sein Blick, das beobachtete Degoth mittlerweile akribisch, schweifte hinunter an den Strand.

      Auf der Rückseite des Gebäudes lag die Meeresbucht. Dahin, wo nicht allzu weit eine Bootsanlegestelle weit hinaus ins Meer ragte. Sie erinnerten sich, dass sie zuvor, während sie auf der Uferpromenade flanierten um zur Seebrücke zu laufen, dorthin einen kurzen Blick warfen. Es vergingen Minuten, aber es tat sich nichts. Der Kellner harrte unverändert in seiner ihm eigenen Stellung. Als er schließlich vor lauter Nervosität von einem auf das andere Bein hüpfte, fing er doch an, wenn auch mit hochrotem Kopf, zu stammeln. „Werde abgelöst, muss dringend weg“, er legte eine kurze Pause ein ....., „dass sie die Rechnung begleichen. Deshalb.“

      Sie wollten es nicht auf die Spitze treiben, aber eine solche Art, gerade in einem doch recht ordentlichen Restaurant, ist einfach inakzeptabel. Davon waren sie fest überzeugt. Dann gaben sie sich einen Ruck, und sagten: „Warum nicht gleich?“ Degoth legte den Betrag, diesmal exakt abgezählt, auf den Tisch. Sonst war das nicht seine Art. Er gab immer ein kleines Trinkgeld. Manchmal, wenn die Bedienung besonders nett war, konnte es auch mehr sein. Flott steckte der Bursche das Geld in seine Kellnerbörse. Dabei griff er nach dem Beleg, der noch immer unberührt auf dem Tisch lag. Er wollte doch tatsächlich den Bon wieder mitgehen lassen! Aber Degoth war schneller und schnappte vor ihm zu. Auch wortlos! Stumm drehte er sich schließlich um und sputete sich weg zu kommen.

      Plötzlich schien er es verdammt eilig zu haben. Chantal und Michel schauten sich irritiert an. Sie fanden dieses Verhalten richtig absurd. Schließlich trödelte er zuvor herum, war wortkarg und unfreundlich zugleich.

      „Auf einmal macht der in Eile“, sagte Chantal. „Ich glaube, dem muss einer mal die Flötentöne korrekt beibringen.“

      „Das kannst du laut sagen. Gerne hätte ich ihm die Leviten gelesen.“ Dabei warf er seinen Blick in den Himmel. Während der Dialoge, die man eher stummes Theater nennen konnte, ballte sich das in der Frühe bereits im Radio angekündigte Unwetter an. Das war ihnen zuvor gar nicht aufgefallen, so verfangen waren sie in der seltsamen Geschichte. Noch behauptete sich allerdings die Sonne, so dass der Gedanke an einen Orkan nicht wirklich aufkommen wollte.

      Das herrliche Sellin hatte einen trüben, regnerischen und stürmischen Sommernachmittag erwischt. Ein Orkan, wie er am Vormittag im Radio angekündigt wurde, machte sich breit. Aber das schien die vielen Gäste nicht zu beeindrucken. Als schiene die Sonne pur, sei Windstille, bestes Badewetter, lief das Strandleben ab, und auf der Uferpromenade herrschte nach wie vor Hochbetrieb. Das war ein gutes Zeichen für die Geschäfte und das Hotel- und Restaurantgewerbe. Auf der Promenade lief in dieser Zeit ein Mann, der ordentlich gekleidet seinem Ziel entgegensteuerte. Wo er her kam und hin wollte, war niemanden bekannt. Sein Weg führte ihn zunächst zum Lift. Von dort aus ging es hinunter zum Sandstrand. Gleichzeitig konnte man aber auch hoch zur Seebühne. Sicher, nichts Ungewöhnliches für einen solchen Ort, wo viele Menschen, gerade in der Hochsaison, sich tummelten. Der Mann schritt zügig weiter, machte eine kurzen Halt und zog schließlich Schuhe und Strümpfe aus. Erst danach trat er in den weichen Sand. Man sah ihm an, wie er die wohltuende Wärme verspürte. Sein schwarzes Haar war elegant nach hinten gekämmt. Auf sein Outfit, das sah man ihm an, legte er großen Wert. Plötzlich stellte er sich neben einen Strandkorb. Dann lehnte er halb schräg daran und schaute nach allen Seiten. Schuhe und Strümpfe hielt er noch immer vornehm in seiner Hand. Jetzt wurde deutlich, dass er auf jemanden wartete. Ein seltsamer Ort für ein Meeting könnte man meinen, aber dann stolzierte ein Fremder auf ihn zu. Dessen schlaksige Gangart war ungewöhnlich. Aber eins fiel auf: Auch er war gut gekleidet und legte Wert auf sein Äußeres. Das hatten also die beiden schon mal gemeinsam, stellte der aufmerksame Beobachter fest. Aber wer sollte bei dem Trubel gezielt beobachten?

      Der Kellner war im Haus der Seebrücke verschwunden. Degoths Frau setzte gerade ein zärtliches Lächeln auf und schaute belustigend in der Gegend herum. Stumm strahlte er zurück.

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