Zwischen Lust und Flammenschwert. Werner Siegert
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Frau Raphael im Lucia-Kostüm, Anhalterin, ca. 55, wohnhaft in einer Kleinstadt. Lebt von Erinnerungen! Wegzehrung für wieviele Jahre noch?
Gute Nacht!
Cappuccino oder nur Milchkaffee?
"Ich soll bleiben, wo der Pfeffer wächst!" hat er gesagt. Fröhlich und beschwingt nahm Frau Raphael vom Frühstücksraum Besitz. "Und schauen Sie mal, was ich gefunden hab'!"
Sie schwenkte triumphierend ihre Scheckkarte.
"Hatte ich verkramt in den Tiefen meiner Handtasche. Und bei Karin hebt immer noch keiner ab. Dabei habe ich Karl vorgeflunkert, ich könne mit Karin für eine Woche auf so eine Art Alm im Gebirge fahren. Bleib' doch, wo der Pfeffer wächst, war seine einzige Antwort. Nix von Polizei und so, Suchaktion. Was geht in einem solchen Mann vor?"
Tiemann wehrte sich gegen Vermutungen, die in ihm aufkeimten. Aber das Wort "Nervensäge" hätte beinahe die Schleusentore seines Mundes passiert. Es fiel nicht nur der Zensur zum Opfer, sondern auch gewissen Irritationen. Verdammt, so unübel erschien ihm die Frau heute morgen gar nicht. Jetzt, wo sie Lebensfreude ausstrahlte, gelöst war, die Selbstvorwürfe, etwas ganz und gar Unerlaubtes, Skandalöses gewagt zu haben, sich verflüchtigt zu haben schienen, da konnte er sich gegen das Gefühl nicht wehren, diese Raphael sei erstens doch eine ganz sympathische und überdies gebildete Person. Und zweitens sei sie ihm vom lieben Gott oder einer Muse geschickt worden.
Wie hatte sein Verleger Kerkhoff gestern mahnend zu ihm gesagt: Tiemann, schreiben Sie mal was für die reifere Generation, für die Senioren. Das ist ein Marktsegment, dem wir uns in Zukunft verstärkt widmen müssen. Ein Drittel der Kunden in den Buchhandlungen, das haben Untersuchung zu Tage gefördert, sind Menschen jenseits der Lebensmitte, insbesondere Frauen. Und er hatte ihm noch entgegnet, dazu fiele ihm so schnell nichts ein.
Sollte er sich einlassen? Sollte er ....? Keine Recherche könnte so ergiebig, so echt, so prall sein wie das eigene Erleben.
Raphaela, der Erzengel, saß bei ihm am Frühstückstisch. Greifbar nahe. Und sprudelnd. Aber diese Haare! Trug man das heute so? Gekämmt ungekämmt? Ungekämmt gekämmt? Haare waren für Tiemann sehr wichtig. Ein äußerst erotisches Element. Oft war er schon viele schnelle Schritte hinter einer Frau hergelaufen, die wunderschöne lange oder kunstvoll geflochtene Haare hatte. Er wollte sie dann von vorn sehen; denn er glaubte, die Erfahrung gemacht zu haben, dass Frauen, die ihre Haare pflegen und schmücken, sehr dem Eros zugeneigt seien. Samtschleifen waren für Tiemann beinahe das, was für andere Reizwäsche bedeutete. Spangen wollte er öffnen, um herrliche Katarakte von langen, seidenglänzenden Haaren zu entfesseln. Wenn ich mal wegen eines sexuellen Übergriffs ins Gefängnis geworfen werde, hatte er sich immer wieder gesagt, dann, weil ich die Haare einer wildfremden Frau in der S-Bahn zu streicheln versucht habe. Halte an dich! musste er sich oftmals selber mahnen.
Aber Raphaelas Haare waren ihm ein Gräuel. Wie konnte man nur!
"Nun, wo fahren wir heute hin?"
Diesen Satz konnte er nicht selber geformt haben. Der platzte so aus ihm heraus, als hätte ihn ein anderer - vorgefertigt - ihm auf die Zunge gelegt. Musste er sich nicht eben noch zügeln, das Wort "Nervensäge" nicht zwischen seinen Lippen durchzischeln zu lassen? Und jetzt diese Einladung? Tiemann, weißt du, auf was du dich da einlässt?
Durch den Körper von Frau Raphael schoss ein Blitz, ein Energieschub. So muss das Aussehen, wenn jemand von sich sagt: Ich war wie neugeboren!
"Heißt das, dass Sie mich nicht in Memmingen rausschmeißen? Dass ich mit Ihnen weiterfahren darf?"
Tiemann nickte, ein wenig erschrocken vor seiner eigenen Courage. Jetzt hatte er einmal Ja gesagt, da gab es kein Zurück mehr. Kerckhoff, Ihr Roman!!! Die ersten beiden Kapitel sind schon so gut wie fertig.
"Und? Wohin?"
"Darf ich unbescheiden sein? Dann - Italien! Toscana! Florenz! Siena!" Danach folgte ein Schwall italienischer Sätze, schwärmerische Begeisterung.
"Okay, dann zahlen wir und ab geht's!"
Tiemann studierte das Weib an seiner Seite; denn inzwischen war es Weib geworden. Nicht mehr die verhuschte Frau von gestern morgen. Das Wrack auf dem Rastplatz. Die Verzweifelte. Die von ihrer für sie bis dahin unvorstellbaren Freveltat Gezeichnete: Spontan in das Auto eines Fremden einsteigen und abhauen. Mit nichts als einer Einkaufstasche. Auf dem Weg zum ALDI oder Tengelmann ausbrechen. Mit dem Ziel der Ziellosigkeit. Raus aus dem Dasein der Strümpfestopferin, der Büglerin, der Kartoffelschälerin, der ALDI-Kundin. Der Britta-Gedemütigten, die vor dem Spiegel ihre erschlaffenden Brüste hochhebt. Jugend, Liebe, Wollust vorbei, vorbei, vorbei. Nur noch abwaschen, staubsaugen, Schuhe putzen. Einmal die Woche zum Kegeln. Damenkränzchen schon lange nicht mehr; denn natürlich wussten alle von Britta. Warum lässt du dir das gefallen. Dieses Schwein. Wehre dich doch. Wenn das der meine wäre! kUnd jetzt: Auf Abenteuer! Statt Gemüseeinkauf direkt nach Würzburg. Mit 'nem Schriftsteller oder so ins Blaue. Nachtspaziergang an der Erms oder Iller. Frühstück mit Einladung nach Italien. Aber wo krieg' ich frische Unterwäsche her? Für ALDI und Tengelmann musste es ja nicht die beste sein. Gottseidank, wenigstens das Lucia-Kostüm. Aber pastellgrün schmutzt so leicht.
Tiemann phantasierte sich ganz schön tief in Seele und Alltag seiner Beifahrerin hinein, während draußen die sonnenreiche Allgäuer Landschaft vorbeiflitzte. Kurs: Bodensee!
"Wie haben Sie denn eigentlich Ihren Mann mal kennengelernt? Irgendwie muss er Ihnen doch damals imponiert haben?"
"Imponiert ist das richtige Wort. Ich sagte Ihnen ja schon, dass ich als Dolmetscherin viel auf Messen zum Standpersonal gehörte. Wann immer Italiener, Franzosen oder Spanier auftauchten, waren wir gefragt. Karl gehörte auch zum Standpersonal eines solchen Ausstellers. Wir waren beide jung und knusprig. Er sieben Jahre älter, spielte den weltgewandten Charmeur. So ist er zwar nicht in den Pool, aber auf mich hereingefallen. Oder ich auf ihn. Und wie das so geht ... Pille gab es damals noch nicht ... zack, war ich schwanger. Und das hieß damals wie selbstverständlich: heiraten. Wie sagt man doch: Zwanzig Sekunden Lust - zwanzig Jahre Frust. Na ja, ganz so schlimm war es nicht. Wir hatten schöne Jahre miteinander. Fast jedes Jahr eine tolle Reise, wobei ihm und mir natürlich meine Sprachkenntnisse zugute kamen. Wenn es die Kinder zuließen, habe ich auch nebenher in meinem Beruf gearbeitet. Aber wie es so ist: Irgendwann ist der Schmelz weg. Erst hatte ich Vermutungen, dann wurde Gewissheit draus, dass Karl mich betrügt. Anfangs hat mich das total fertiggemacht. Wenn die Kinder nicht gewesen wären, hätte ich mich scheiden lassen. Dann bin ich meine eigenen Wege gegangen."
"Eigene Wege?"
"Na ja, so kleine Racheakte. Wie du mir, so ich dir! Wie gesagt, ich war ja auch immer mal wieder unterwegs, in schönen Hotels, in bester Gesellschaft. Wenn man noch jünger ist, dann will man sich nicht so schnell damit abfinden, dass nichts mehr ist mit der Liebe. Erst habe ich mich sehr schwergetan mit dem Seitensprung. Habe tage- und nächtelang an meinem schlechten Gewissen gelitten. Noch dazu, weil es ziemlich schale Erlebnisse waren. Es gibt sehr wenige wirklich gute Liebhaber. Die meisten sind schweinische Egoisten. Vielleicht habe ich gestern spontan "Hannover"