Auf gute Nachbarschaft. Ben Worthmann
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Die freistehenden Einfamilienhäuser hatten sorgsam gepflegte Vorgärten und an die Terrassen grenzende Rasengrundstücke nach hinten hinaus, und alle waren sie ähnlich gestaltet. Man merkte ihnen die Handschrift ein und desselben Architekten an, der aber zugleich darauf geachtet hatte, dass nicht alle Häuser völlig gleich aussahen. Es gab Unterschiede sowohl in Farbe und Größe als auch bei der Form der Dächer.
Das Haus gegenüber beispielsweise war in einem rötlichen Ton gehalten, hatte ein abgeflachtes Dach und war auch ein bisschen größer als das von Jan und Christina, obschon die neuen Bewohner nur zu dritt waren, nachdem dort zuvor eine fünfköpfige Familie gewohnt hatte. Manchmal waren die beiden Wagen vor dem Tor geparkt – ein großer Mercedes-SUV und ein BMW-Cabrio. Auf Jan wirkte das so, als würden diese neuen Nachbarn einen gewissen Wert darauf legen, ihren Wohlstand zur Schau zu stellen. Aber er wollte nicht vorschnell aufgrund solcher Äußerlichkeiten urteilen, wozu er bisweilen neigte, wie er sich selbst eingestehen musste. Schließlich kannte er die Leute von gegenüber, ein Paar in seinem und Christinas Alter mit einem kleinen Sohn, bisher nur flüchtig vom täglichen Sehen und Grüßen. Sie waren ja auch erst vor ein paar Wochen dort eingezogen.
Doch da gab es etwas, das ihn beschäftigte, seit er zum ersten Mal den Mann gesehen hatte. Sofort hatte sich eine Art Déjà-vu-Gefühl eingestellt, und zwar kein gutes. Die Sekunden des ersten Anblicks waren fast wie ein Schockmoment gewesen, weil es zugleich ein Augenblick des Wiedererkennens war. Es kam ihm vor, als würde er kurz innerlich erstarren. Seither hatte er immer wieder versucht, die Ursache dafür zu ergründen und sich klar darüber zu werden, wann und wo er den Mann schon gesehen hatte. Doch es wollte ihm einfach nicht gelingen.
Christina, die kontaktfreudiger war als er selbst und schnell mit Menschen ins Gespräch kam, hatte sich inzwischen mit den Leuten von gegenüber bekannt gemacht und ihm erzählt, sie seien sehr nett und umgänglich und gewiss würden sie gut miteinander auskommen. Andreas Berger hatte einen leitenden Job bei einer Bank, seine Frau Kerstin arbeitete halbtags als Physiotherapeutin in einer großen Praxis. Ihr Sohn Hannes war sechs, ein Jahr älter als die Zwillinge, und gerade eingeschult worden. Und vor ein paar Tagen hatte ihm Christina mitgeteilt, dass es nun so weit sei und man sich wohl ein bisschen näher kennenlernen werde. Die Bergers hätten sie nämlich für diesen Samstag zum Abendessen eingeladen.
Jan stieg von seinem Fahrrad ab und schob es die letzten Meter bis zum Grundstückstor, um es dann in der Garage neben dem Volvo-Kombi an die Wand zu lehnen, und nahm die Tasche ab, die er am Gurt schräg über der Schulter getragen hatte. Ein Rucksack wäre sicherlich bequemer gewesen, aber er mochte diese grassierende Rucksackmode einfach nicht. Während er einen Blick auf den dunkelgrauen Wagen warf, dachte er, dass er mal wieder eine Wäsche vertragen könnte, auch wenn er nicht dauernd so zu blinken und blitzten wie die Fahrzeuge der Nachbarn gegenüber. Christina und er hatten beschlossen, dass ein Familienauto vollauf genügte, zumal es fast nur sie es war, die den Wagen wirklich benötigte, vor allem, um die üblichen Einkäufe zu erledigen, die Zwillinge zur Kita zu fahren und selbst zu der von ihrem Haus etwas abgelegenen Grundschule zu gelangen, in der sie seit Jahren als Lehrerin arbeitete.
Jan nahm das Rad für die zwei Kilometer zur S-Bahnstation, von der er mit dem Zug in knapp zehn Minuten bequem beim Verlag war. Manchmal legte er die Strecke auch zu Fuß zurück. Das erschien ihm nicht nur aus Rücksicht auf die Umwelt vernünftig. Er merkte auch, dass ihm die Bewegung ganz gut tat, zusätzlich zu den Gymnastik- und Yoga-Übungen, die er seit damals auf Anraten der Therapeuten täglich absolvierte. Tatsache war aber außerdem, dass er einfach nicht gern Auto fuhr, schon gar nicht in dieser großen Stadt, wo die allgemeine Hektik nur allzu leicht in Rücksichtslosigkeit und Aggressivität umschlug. Umso mehr wusste er es zu schätzen, dass sie jetzt hier praktisch wie auf dem Lande lebten, in ihrem behaglichen Refugium, in sicherer Entfernung von all dem Lärm und der Hektik der Metropole – weit weg aber vor allem von Altenstedt, jener Stadt, aus der er stammte, in der er geboren und aufgewachsen war und bis vor achtzehn Jahren gelebt hatte.
Als er Altenstedt damals verlassen hatte, war das wie eine Flucht gewesen und er war seither nie mehr dorthin zurückgekehrt. Der Name der Stadt war für ihn zum Synonym für die dunkelsten Stunden und Tage seines Lebens geworden.
Auf dem Weg zur Haustür stellte er fest, dass er seinen Schlüssel nicht dabei hatte, was bisweilen vorkam. Bevor er anklingeln konnte, wurde die Tür schon aufgerissen und Paul und Marie kamen ihm entgegengestürmt.
„Papi, Papi, schön, dass du endlich da bist“, riefen beide fast gleichzeitig.
„Ja, ich freue mich auch, ihr beiden Wilden.“
„Wir sind gar nicht wild, sondern ganz brav“, widersprach ihm Paul. „Wir haben nämlich ganz alleine freiwillig unsere Sachen aufgeräumt.“
„Na ja, das ist dann vielleicht doch ein bisschen übertrieben“, korrigierte ihn lächelnd seine Mutter, die aus der Küche in die Diele getreten war. „Ganz so freiwillig war das nun auch wieder nicht.“
Während Jan die Tür hinter sich schloss und seine Tasche abstellte, kam Christina näher, um ihn mit einer kurzen Umarmung und einem Kuss zu begrüßen. Sie trug Shorts und ein T-Shirt und er spürte für einen Moment die Wärme ihres schlanken, hochgewachsenen Körpers, der nur wenig kleiner war als sein eigener. Immer noch wirkte sie sehr jung mit ihrem feingeschnittenen Gesicht, dem kurzen dunklen Haar, mit ihrer lebhaften, offenen Art - jünger jedenfalls, als es die fünf Jahre Altersunterschied vermuten ließen, die er ihr mit seinen knapp vierundvierzig voraus war. Immer noch kam es vor, dass sich beim Anblick Christinas Anblick ein anderes Bild vor sein inneres Auge geschoben und er gewisse Vergleiche angestellte, obschon er es eigentlich gar nicht wollte.
„Hast du an den Wein für die Bergers gedacht?“, fragte sie.
„Welchen Wein? Ach so, ja. Tut mir leid, den habe ich vergessen.“
2.
Christina schaute in den Kühlschrank und überlegte kurz: Käse, Schinken, Tomaten, Radieschen? Am besten alles, entschied sie. Das Abendessen würde heute eher bescheiden ausfallen. Jan hatte mit einem Kollegen zu Mittag gegessen und für sie und die Kinder war noch ein Rest Spaghetti Bolognese vom Vortag übrig gewesen. Sie warf einen Blick durchs Küchenfenster. Jan war schon da, er schob sein Rad Richtung Garage. Wie gut er aussah, dachte sie, so jung und lässig. Und in Jeans, hellblauem Hemd und dunkelblauem Jackett sah er ganz besonders gut aus. So war er auch bei ihrer allerersten Begegnung gekleidet gewesen, als sie sich sofort in ihn verliebt hatte.
Heute Abend erschien ihr das Leben leicht und unbeschwert. Alles war genau so, wie sie es sich immer gewünscht hatte. Und wenn auch nach wie vor, in den tiefsten Tiefen ihres Bewusstseins, noch ein winziger Rest von Unsicherheit und Vorsicht lauerte, glaubte sie doch sicher sein zu können, dass sie eine fröhliche, glückliche Familie bleiben würden, auch wenn es noch vorkam, wie kürzlich wieder, dass er in der Nacht aus dem Schlaf aufschreckte und sich kurz, offenkundig verwirrt, in seinem Bett aufsetzte. Er hatte vor Jahren Schreckliches erlebt. Und wahrscheinlich würde es infolge dieses Traumas immer mal wieder kleine Rückfälle geben. Damit mussten sie leben. Doch sie war sich sicher, dass Jan seine Dämonen, wie sie es nannte, im Grunde besiegt hatte.
Er war ein liebevoller, verantwortungsbewusster Vater. Seine Arbeit machte ihm Freude und wurde gut bezahlt. Und trotz zahlreicher Überstunden und anstrengender Phasen fuhr er doch jeden Morgen gern in sein Verlagsbüro. Auch nach zehn gemeinsamen Jahren war Christina noch immer verliebt in ihn. Und umgekehrt, davon war sie überzeugt, verhielt es sich nicht anders.
Damals, als sie an einem Freitagabend so ungewollt tapsig in sein Leben gestolpert war, hatten Jahre großer Verzweiflung