Auf gute Nachbarschaft. Ben Worthmann
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Читать онлайн книгу Auf gute Nachbarschaft - Ben Worthmann страница 6
Jan sagte nichts. Er hatte die Hände so fest ineinander geschlungen, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. Auf einmal tat er Christina leid. Sie merkte, wie ihr Ärger verflog, während ihr zugleich flau wurde. Schnell nahm sie einen Schluck aus ihrem Wasserglas. Ich will diese schreckliche Geschichte nicht mehr in meinem, in unserem Leben haben, dachte sie. Und während sie ihn ratlos betrachtete, spürte sie Enttäuschung, aber auch Angst in sich aufsteigen. Sie war sich doch so sicher gewesen, dass dieses Kapitel abgeschlossen war. Jan hatte doch alles genau so gewollt wie sie – die Heirat, die Kinder, den Hauskauf. Sie hatten doch ihr Leben, ihre Zukunft gemeinsam geplant.
„Jan, nun komm doch mal wieder zu dir“, sagte sie leise und legte ihm vorsichtig die Hand auf die Schulter. Er machte eine ungeduldige Bewegung, so als wolle er sie abschütteln. Erneut empfand Christina Ärger, ja Wut. Jetzt war sie es, die vom Sofa aufsprang.
„Du gefällst dir wohl in der Rolle des ach so sensiblen, vom Schicksal schwer geprüften Menschen! Komm, mach die Augen auf, guck mich an, schau dir das Leben an! Bedeutet dir das alles gar nichts? Ich war so fest davon überzeugt, habe daran geglaubt, dass all das, was ich für ein großes Glück halte, auf sehr festen Füßen steht. Es kann doch nicht sein, und ich will und kann das nicht akzeptieren, dass du dich wegen solch einer im Grunde banalen Mitteilung wieder in diese Geschichte hineinsteigerst. Du hast ein neues Leben, ein gutes und erfülltes. Ich war immer überzeugt – und die letzten Jahre haben mich nicht daran zweifeln lassen -, dass du endlich einen Schlussstrich gezogen hast.“
Sie merkte, wie sie sich immer mehr in Rage redete, während Jan immer noch schweigend da saß, die Arme vor der Brust verschränkt.
„Leide nur weiter, das kannst du ja so gut“, stieß sie hervor.
Dann verließ sie das Zimmer, putzte sich im Bad die Zähne und ging ins Schlafzimmer, wo sie sich in ihr Bett fallen ließ. Irgendwann in der Nacht bemerkte sie, wie Jan aufstand. Sie lauschte angestrengt und hörte durch die angelehnte Tür, dass er in die Küche ging und den Kühlschrank öffnete. Sie wusste, er würde nicht zurück ins Bett kommen. Verdammter Mist, dachte sie und warf sich unwillig auf die andere Seite.
Am nächsten Morgen versuchte sie, so zu sein wie immer. Die Kinder schienen nichts zu merken, aber ihr fiel auf, dass Jan wortkarg und fahrig war. Auch sie sprach nicht viel. Sie tat, was sie jeden Morgen tat, und als sie mit den Kindern das Haus verließ, saß er noch immer am Frühstückstisch.
Was sollte das nur werden? Er würde es womöglich fertigbringen, sich in alles Mögliche hineinzusteigern und in Andreas Berger weiß Gott wen sehen, zumal er ihn ohnehin nicht besonders gut leiden konnte.
6.
Am Tag nach dem Streit mit Christina hatte Jan Mühe, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Immer wieder schob sich ein bestimmtes Bild vor sein inneres Auge, beklemmend und lähmend zugleich. Da war dieses milchig-weiße, formlose Gebilde, ähnlich einem Nebel oder einer Wolke, und in der Mitte befand sich ein großer schwarzer Punkt.
Einer der Therapeuten hatte damals von einem „Loch in der Seele“ gesprochen, das ihm zugefügt worden sei. Dieses lasse sich mittels seelenärztlicher Eingriffe zwar schließen, aber er müsse damit rechnen, dass die Narbe immer noch mal wieder schmerzen könne. Das Sprichwort, demzufolge die Zeit alle Wunden heilt, sei im Prinzip gewiss zutreffend, doch über die Narben sei damit ja schließlich nichts gesagt. Für Jan hatte das einleuchtend geklungen, und die Metapher vom Loch in der Seele fand er durchaus passend, auch wenn damit nicht unbedingt die Plötzlichkeit beschrieben war, mit der er diese Wunde erlitten hatte.
Von einem Tag auf den anderen einen geliebten Menschen zu verlieren, das bedeutete gewiss immer eine Tortur, einen tragischen Bruch alles Gewohnten. Aber so, wie die Dinge in Jans Fall lagen, war es noch weit mehr gewesen – ein traumatischer Schock, der ihn bis ins tiefste Innere erschüttert hatte. Denn es ging ja nicht allein um den Verlust, sondern fast mehr noch um die Umstände, unter denen er ihn erlitten hatte und die so grausam und quälend gewesen waren. Der Tod war schrecklich genug, zumal wenn er ein so junges Leben beendete. Doch mit dem Fortschreiten der Zeit ließ sich vermutlich irgendwann damit abschließen, sofern der Tod durch einen Unfall oder eine Krankheit eingetreten war, hatte Jan oft gedacht. Ihm war diese Möglichkeit verwehrt geblieben, mit dem Schicksal seinen Frieden zu machen, eben weil sich dieser Tod nicht irgendwelchen anonymen Mächten anlasten ließ, sondern es jemanden gab, der ihn bewusst herbeigeführt hatte.
Nina und eher gingen zum selben Gymnasium und irgendwann fiel sie ihm auf. Es war ein Zufall, der alles für ihn veränderte. Sie stand vor ihm am Schulkiosk, und als sie sich umdrehte und in ihr Brötchen biss, trafen sich ihre Blicke. Noch nie glaubte er solch faszinierende Augen gesehen zu haben: bernsteinbraun, groß und ganz leicht schräggestellt unter fein geschwungenen Brauen. Er hätte noch lange so stehen bleibe können. Und auch sie schien kurz innezuhalten, bevor sie lächelnd und kauend davonging. Schon in diesem Moment war ihm klar, dass er keine Chance hatte, ihrem Bann zu entkommen.
Von da an hielt er unentwegt nach ihr Ausschau, vor dem Unterricht, nach dem Unterricht, in den Hofpausen. Sie schien nie allein zu sein, immer war ein Pulk von Jungen und Mädchen um sie herum, lachend und redend. Jan fand sie hinreißend. Meistens trug sie enge Jeans, die ihre schlanken Beine und den schön geformten Po gut zur Geltung brachten. Ihr kinnlanges, glattes mittelblondes Haar mit dem geraden Pony, der fast bis an die Brauen reichte, sah immer glänzend und frisch aus. Was hätte er darum gegeben, wenn er es hätte berühren und darüber streichen dürfen. Bestimmt duftete es wunderbar.
Jan hatte sich verliebt. Seine Fantasien kreisten nur noch um Nina. Und da sie sehr schön waren und es nicht allein bei Fantasien bleiben sollte, stand für ihn fest, dass er sie kennenlernen musste. Nur wie? Leider war er so gar nicht der coole Typ, der einfach auf ein Mädchen zugehen und sein Interesse bekunden konnte, womöglich noch mit einem lockeren Spruch. Und Nina ihrerseits unternahm bedauerlicherweise nichts, um ihn näher kennenzulernen. Für sie war er offensichtlich nur einer von vielen unter den rund dreihundert Jungen an der Schule.
Aber dann gab es diesen Zufall, der sich als wahrhaft schicksalhaft erweisen sollte. Es war eines Mittags nach Schulschluss, als er sie bei den Fahrradständern antraf.
„Schon wieder ein Platten“, schnaubte sie verärgert und trat gegen ihr Rad.
Sofort sah er seine Chance.
„Moment, kein Problem, ich habe Flickzeug dabei, das werden wir gleich haben.“
Mit Eifer machte er sich an die Arbeit. Während Nina neben ihm stand und zusah, kamen sie ins Gespräch. Im Nachhinein betrachtet, war es eine eher banale Unterhaltung, bei der es vor allem um Schulangelegenheiten ging. Anschließend bedankte Nina sich überschwänglich und fragte ihn, ob sie sich irgendwie revanchieren könne. Aber ihm fiel auf Anhieb keine passende Antwort ein.
„Komm doch heute Nachmittag einfach ins 'Luigi', du weißt doch, das Eiscafé am Alten Markt“, sagte sie. „Ich kellnere dort ein bisschen. Du kriegst einen Eisbecher oder einen Kaffee oder beides, natürlich gratis.“
So hatte es begonnen. Bald gab es kaum noch einen Tag, an dem sie sich nicht trafen, um irgendetwas zu unternehmen oder, nach einer gewissen Zeit, bei ihm oder ihr im Zimmer zu sein. Für sie beide mit ihren bis dahin eher spärlichen Erfahrungen wurde es die erste ernsthafte Beziehung. Und kaum hatte er sein Abitur in der Tasche und sein Studium begonnen, zog er zu Hause aus und nahm sich eine kleine Eineinhalb-Zimmer-Wohnung. Das erleichterte vieles. Sie konnten sich sehen, wann immer sie wollten, ohne Rücksicht auf die Eltern