Auf gute Nachbarschaft. Ben Worthmann
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Nina, die ihn dafür bewunderte und in ihrer leichten, bisweilen etwas schwärmerischen Art bereits den künftigen großen Schriftsteller in ihm sah, hatte ihn stets zu bestärken versucht. Er selbst sah die Sache deutlich nüchterner. Und als sich ihm direkt nach dem Examen die Möglichkeit bot, als Lektor bei einem kleinen, aber angesehenen Verlag zu beginnen, hatte er nicht lange gezögert. Bücher konnte er immer noch schreiben, Ideen dafür hatte er, doch jetzt war es ihm erst einmal wichtiger, Geld zu verdienen. Er mietete eine größere Wohnung und kaufte sein erstes Auto. Das Schönste aber war, dass Nina endlich eingewilligt hatte, zu ihm zu ziehen. Jan glaubte täglich zu spüren, wie sehr auch Nina dieses neue gemeinsame Leben genoss.
Sie fühlten sich wohl in ihrer Wohnung und auch in ihrer Stadt, gerade weil es hier etwas beschaulicher zuging als in den Metropolen, die vielen jungen Leuten so verlockend erschienen. Mit ihren knapp 180 000 Einwohnern, der altehrwürdigen Universität, dem historischen Marktplatz, all den Kultureinrichtungen und Lokalen und nicht zuletzt dem vielen Grün bot sie alles, um hinreichend Lebensqualität zu garantieren.
Dann stand sie kurz vor dem Abschluss ihres Architekturstudiums.
Sie träumte von einem eigenen Büro, würde sich aber auch jederzeit anstellen lassen, wie sie immer wieder beteuerte. Jan musste dann schmunzeln. Nina in einem festen Angestelltenjob mit Fünftagewoche – das konnte er sich kaum vorstellen. Dazu blieb sie einfach zu gerne morgens noch eine oder zwei Stunden länger im Bett liegen oder vertrödelte auch schon mal einen halben Tag, traf sich mit Freunden und Kommilitonen und kam manchmal erst spät am Abend nach Hause.
In den Augen Außenstehender bildeten sie wohl ein sehr ungleiches Paar, nicht nur optisch. Sie war die Lebenslustige, Kontaktfreudige, etwas Flippige, er der hoch aufgeschossene, ein wenig ungelenke Introvertierte, der seine Abende gern mit Literatur und Manuskripten verbrachte und nicht ständig unterwegs sein und Leute um sich haben musste. Dabei vertraute er Nina blind. Er war sich ihrer Liebe und Treue so sicher, dass er niemals Bedenken hatte, wenn sie allein loszog.
An jenem Abend, dem die schrecklich Nacht folgen sollte, die alles zunichte werden ließ, kam sie gegen halb neun zu ihm ins Arbeitszimmer und erklärte, sie werde noch ein bisschen laufen. Das tat sie mehrmals in der Woche. Sie liebte die sportliche Bewegung, schwamm viel und sprach neuerdings auch davon, dass sie gern wieder Tennis spielen würde, so wie vor ein paar Jahren während ihrer Schulzeit. Hin und wieder versuchte sie, auch Jan dazu zu animieren, mehr Sport zu treiben. Aber er machte sich nicht viel daraus, obwohl er von Natur aus mit einigen Talenten ausgestattet war, wie ihm die Lehrer oft bestätigt hatten. In seinem langen, sehnigen Körper steckten mehr Kraft und Energie, als auf den ersten Blick zu vermuten war.
Der Frühling stand kurz bevor, es war nicht mehr kalt, aber immer noch früh dunkel. Nina hatte ihr knappes Jogging-Dress angezogen. Er spürte ihren Atem, als sie sich kurz von hinten über ihn beugte, um ihm einen Kuss in die Halsbeuge zu drücken. Dann war sie auch schon zur Tür hinaus.
Mehr als eineinhalb Stunden vergingen, ohne dass sie zurückkehrte. Er begann sich zu fragen, wo sie so lange blieb. Womöglich hatte sie unterwegs jemanden getroffen und war noch irgendwo eingekehrt. Sie neigte ja manchmal zu solchen plötzlichen Entschlüssen und konnte dann schon mal die Zeit vergessen. Er rief einige ihrer engeren Freundinnen an, alle waren zu Hause, niemand hatte an diesem Abend Kontakt zu ihr gehabt, auch Claudia nicht, ihre beste Freundin. Weitere Zeit verstrich, eine Stunde und mehr, ohne dass er später im Einzelnen hätte sagen können, was er getan hatte, um seine quälende Unruhe zu ertragen, die alles um ihn herum unwirklich erscheinen ließ.
Irgendwann beschloss er, mit dem Fahrrad loszufahren, um Nina zu suchen. Aber als er es aus dem Keller holen wollte, wo es normalerweise stand, fand er es dort nicht. Er spürte kurz einen leichten Schwindel. Dann hastete er nach draußen und stellte fest, dass das Rad an der Hauswand lehnte.
Langsam fuhr er Ninas gewohnte Laufstrecke ab. Sie führte am Rande des großen Parks ganz in der Nähe vorbei, der nicht nur aus Grünflächen, sondern teilweise auch aus dichtem Buschwerk und einem Waldareal bestand. Langsam fuhr er die Route ab. Keine Spur von Nina oder sonst jemandem. Auch in dem Restaurant am Rande des Parks war sie nicht.
Er überlegte, ob er sofort zur Polizei gehen sollte. Aber das war wohl doch etwas voreilig. Vielleicht war Nina inzwischen ja wieder zu Hause. Als er die Wohnungstür aufschloss, hoffte er zu hören, wie das Wasser in der Dusche rauschte. Er rief ihren Namen. Nichts. Inzwischen war es weit nach Mitternacht und Ninas Aufbruch lag mehr als dreieinhalb Stunden zurück. Jan merkte, wie sich seine Unruhe in Wogen von Panik verwandelte, die ihn durchfluteten. Er führte noch ein paar weitere ergebnislose Telefonate. Dann hielt es ihn nicht länger zu Hause. Er stieg ins Auto und fuhr zur Polizei. Was man ihm dort sagte, machte ihn zornig, aber im Grunde hatte er so etwas erwartet: Für eine Vermisstenanzeige sei es noch viel zu früh, Nina Kronenburg sei schließlich eine erwachsene Frau in einem freien Land und Menschen kämen manchmal auf die sonderbarsten Ideen. Am besten gehe er wieder nach Hause und warte erst mal die Nacht ab. Die meisten Vermissten kehrten erfahrungsgemäß am nächsten Tag wohlbehalten zurück.
Als einer der beiden Beamten schließlich noch meinte, oftmals glaube man einen Menschen ganz genau zu kennen, aber es gebe dann doch noch irgendetwas „oder eben auch irgendjemanden“, von dem man nichts wisse, musste Jan an sich halten, um nicht die Nerven zu verlieren. Eiskalte Idioten!, dachte er im Hinausgehen. Wahrscheinlich lachten sie jetzt über ihn.
Er fuhr zurück zum Park, nahm seine Taschenlampe aus dem Auto mit und begann, die ganze Laufstrecke akribisch abzusuchen. Auch abseits des Pfades leuchtete er immer wieder ins Gebüsch. Dabei spielte es für ihn keine Rolle, ob das wirklich sinnvoll war, was er da tat. War es die Vorstellung, dass Nina gestürzt war, irgendwo lag und Hilfe brauchte, die ihn antrieb? Er wusste es selbst nicht.
Besonders gründlich nahm er sich das Waldstück vor, wo es dichtes Unterholz gab. Und dort fand er sie.
Der Schein seiner Lampe fiel auf den leicht gekrümmten, auf der Seite liegenden Körper. Dann auf das Gesicht, das schrecklich verzerrt war. Auf die Augen mit ihrem leeren Blick.
Er sank neben ihr auf den Boden, ließ seinen Oberkörper über sie fallen und schrie.
7.
Jan war sich selbst ein Rätsel. Es irritierte und ängstigte ihn, dass die Vergangenheit ihn plötzlich wieder so fest im Griff hatte. Christina hatte ja so recht mit allem, was sie ihm an den Kopf geworfen hatte. Und trotzdem – er konnte sich doch nicht einfach schütteln wie ein nasser Hund und alles war dann wie immer.
Tagsüber versank er oft in Grübeleien, im Büro, unterwegs, am Abendbrottisch mit der Familie. Und nachts kam wieder dieser Albtraum wie in früheren Jahren.
Es war und blieb immer derselbe Traum. Jede Szene, jedes Detail wiederholte sich ohne die geringste Abweichung. Er stand mit Nina im Flur ihrer Wohnung, die Wandlampe neben dem Garderobenschrank leuchtete, es musste also Abend oder Nacht sein. Sie schrien einander an. Er ging immer näher auf sie zu, bis sie mit dem Rücken gegen die Wand stand. Ihre Augen waren vor