Auf gute Nachbarschaft. Ben Worthmann

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Auf gute Nachbarschaft - Ben Worthmann

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Jetzt war sie gefangen, jetzt konnte sie ihm nicht mehr entkommen. Plötzlich duckte sich Nina, schlüpfte unter seinen Armen hindurch und rannte schreiend in Richtung Wohnungstür. Noch bevor sie diese erreicht hatte, war er hinter ihr, packte sie bei den Schultern und riss sie zu Boden.

      Dann wurde er wach, schweißnass und mit rasendem Herzschlag. Er wusste sich diesen Traum nicht zu erklären. Er erschien ihm so sinnlos, hatte nichts mit dem Leben zu tun, das er und Nina geführt hatten. Nie hatte es ernsthaften Streit zwischen ihnen gegeben, allenfalls harmlose Wortgefechte. Und niemals hatte er die Hand gegen sie erhoben oder hatte sie derart außer sich vor Angst gesehen.

      In den letzten Tagen war Christina deutlich auf Abstand gegangen. Sie kam ihm nicht mehr verärgert oder aggressiv vor, sondern eher vorsichtig und abwartend. Dabei war ihm durchaus klar, dass all seine Beschwichtigungsbemühungen bisher nichts gefruchtet hatten. Dazu kannte sie ihn zu gut. Er musste etwas unternehmen, so viel stand fest. Die Suche nach einem Therapeuten wollte er vorerst noch beiseite lassen. Zunächst musste er mit Andreas sprechen. Vielleicht konnte er ihn abends, wenn er von der Arbeit kam, abpassen und ihm dann die Fragen stellen, die ihn bewegten.

      Tatsache war, dass Ninas Mörder nie hatte gefasst werden können. Der lief noch immer unbehelligt durch die Welt, war vielleicht, wie er selbst, inzwischen ein Ehemann und Familienvater, hatte beruflich Karriere gemacht, wurde geschätzt als Kollege, Freund, Schwiegersohn. Jan hatte sich oft gefragt, wie jemand mit solch einer gewaltigen Schuld leben konnte. Aber die Menschen waren bisweilen erstaunliche Verdrängungskünstler. Psychologen würden vielleicht von Abspaltung reden, was wohl bedeutete, dass ein begangenes schweres Verbrechen irgendwann im Bewusstsein nicht mehr vorhanden war, ähnlich wie ein schlimmes Erlebnis, das nach und nach verdrängt werden konnte.

      In den zurückliegenden zehn Jahren hatte Jan, anders als in der ersten Zeit, nur noch in großen Zeitabständen bei der Kriminalpolizei nachgefragt, dreimal insgesamt, immer in der Hoffnung, dass es doch noch eine heiße Spur geben könnte. Aber es lagen keine neuen Erkenntnisse vor. Der Fall Nina Kronenberg war zu den Akten unter der Rubrik „Ungelöst“ gelegt worden, nachdem selbst Fahndungsaufrufe im Fernsehen erfolglos geblieben waren. Auch wenn die Aufklärungsquote bei keinem anderen Delikt so hoch war wie bei derartigen Kapitalverbrechen, gab es doch Morde wie diesen, die ungesühnt blieben und es bleiben mussten, weil es irgendwann einfach keinen Ermittlungsansatz mehr gab. Und hier hatte letzten Endes alles gefehlt. Es gab weder DNA-Spuren noch Zeugen noch ein Motiv, keine Zeichen von sexueller Gewalt.

      Nina war erwürgt worden. Von wem und weshalb, blieb ein Rätsel.

      Der Kriminalkommissar, der damals die Ermittlungen geleitet hatte und inzwischen in Pension gegangen war, hatte sich Jan gegenüber bis zum Schluss immer sehr verständnisvoll gezeigt. Wegen seines Schocks hatte Jan ein paar Tage im Krankenhaus behandelt werden müssen, aber natürlich war es ihm nicht erspart geblieben, von der Polizei befragt zu werden, genau wie Ninas Verwandte und Freunde. Er hatte das als kaum erträgliche Zumutung empfunden und das auch in heftigem Ton zu verstehen gegeben. Der Kommissar hatte ihm begütigend erklärt, dass diese Vernehmung unumgänglich sei und zur Routine gehöre, zumal er, Jan Hofmeister, sozusagen der engste Angehörige der getöteten Nina Kronenburg sei.

      Jan hatte Christina nie von seinen Nachfragen bei der Polizei erzählt. Er wollte ihr nicht wehtun, sie nicht beunruhigen. Sie war so voller Optimismus, so voller Lebensfreude. Und wenn sein seelisches Gleichgewicht von Zeit zu Zeit in Schräglage zu kippen drohte, war es die Gewissheit, Christina an seiner Seite zu haben, die ihn rasch wieder ins Lot brachte. Dafür liebte er sie. Manchmal allerdings, wenn er sie beobachtete, wie sie im Garten werkelte, wie sie Paul und Marie Geschichten vorlas, fragte er sich, ob er sie wirklich liebte. Was er für Christina empfand, war so anders als das, was Nina bei ihm ausgelöst hatte: Leidenschaft, Hingabe, auch Stolz. Dass er Christina geheiratet hatte, war in erster Linie ihrer Hartnäckigkeit zu verdanken.

      Als sie einander zum ersten Mal begegnet waren, hatte ihm das kaum etwas bedeutet. Sie war eine hübsche junge Frau, so wie viele andere auch. Nicht mal ihren Namen hatte er behalten. Und als sie ihn angerufen hatte, war er sehr erstaunt gewesen – auch über sich selbst und seine Einwilligung, sich mit ihr zu treffen. Der Gedanke an eine neue Beziehung lag damals außerhalb seiner Vorstellungen.

      Doch Christina hatte sich nicht abschrecken lassen, nicht durch seine Distanziertheit, nicht durch seine Zurückweisungen, die sie verletzt haben mussten. Irgendwann hatte er dann beschlossen, seinen Widerstand aufzugeben, die Dinge laufen zu lassen. Und er war zu dem Schluss gelangt, dass es so, wie es war, gut war. Nur, was wäre, wenn Nina plötzlich wieder vor ihm stünde? Er wusste, solche Gedanken waren heikel und er wagte es nicht, sich selbst eine Antwort darauf zu geben.

      Wenn doch bloß Ninas Mörder gefasst und hinter Schloss und Riegel gebracht würde, dann könnte ich endlich frei sein, hatte Jan oft gedacht. Sich zu befreien, alles hinter sich zu lassen: das war auch der Grund dafür gewesen, dass er noch im selben Jahr, als es geschehen war, weggezogen war aus der Stadt, fest entschlossen, nie mehr dorthin zurückzukehren. Es war ein radikaler Schritt und Schnitt gewesen, der für Außenstehende sicherlich auch deswegen befremdlich anmutete, weil er nie das Bedürfnis gehabt hatte, Ninas Grab zu besuchen oder mit ihren Eltern zu sprechen. Was geblieben war von ihr und diesem ersten Abschnitt seines Lebens, war irgendwo tief in seinem Inneren verborgen.

      Inzwischen waren zehn Tage seit dem gemeinsamen Essen vergangen, ohne dass er den Bergers wieder begegnet wäre. An diesem Abend kam er etwas früher als sonst nach Hause. Christina war noch mit den Kindern unterwegs, zum wöchentlichen Besuch bei ihren Eltern. Er nahm sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank, setzte sich an den Küchentisch und genoss die ungewohnte Ruhe. Es war jetzt Mitte September, nicht mehr lange, dann würde es um diese Zeit dunkel sein.

      Kurz nach halb sieben tauchte Andreas mit seinem großen BMW auf und parkte ihn vor der Doppelgarage, wo er ihn manchmal stehen ließ, auch über Nacht. Wie immer sprang er mit federnden Schritten aus dem Wagen. Der dunkle Anzug saß tadellos, die schwarzen Schuhe glänzten. Die sicherlich teure Aktentaschen hatte er sich unter den Arm geklemmt. Ob dieser Mann überhaupt einmal irgendetwas ruhig und langsam tun konnte? Ob er in seiner Bank auch so hektisch war und seine Mitarbeiter kribbelig machte?

      Jan schüttelte den Kopf. Plötzlich hatte er das Gefühl, diesem Menschen, dessen bloßer Anblick ihm Unbehagen bereitete, jetzt sofort unbedingt ins Gesicht sehen, seine Stimme hören zu müssen. Er öffnete die Haustür, winkte ihm mit einem „Hallo“ zu und ging hinüber.

      „Na, endlich Feierabend?“

      „Das war vielleicht ein Tag, sage ich dir“, legte Andreas sofort los. „Ärger mit einem Mitarbeiter, jede Menge Aktenvorgänge, tausend Telefonate, keine Zeit fürs Mittagessen. Aber fürs Nichtstun verdienen wir beide ja schließlich nicht unser Geld.“

      Es folgte ein lautes Lachen. Jan rang sich ein Lächeln ab, was ihm schwer genug fiel. Wie unangenehm er diesen Menschen doch fand.

      „Es war übrigens neulich sehr nett bei euch“, sagte er. „Vielen Dank nochmals für die Einladung. Demnächst kommt ihr zu uns.“

      Jan machte eine kurze Pause.

      „Ich glaube, wir werden noch jede Menge Gesprächsstoff haben“, fuhr er fort. „Allein schon, weil wir ja beide aus Altenstedt kommen und nun hier als Nachbarn gelandet sind.“

      „Mein Gott, ach das“, sagte Andreas gedehnt und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Das ist doch alles schon so ewig lange her. Ich habe gar keine Beziehung mehr zu dieser Stadt. Viel zu provinziell, zu eng.“

      „Da geht’s dir genau wie mir“, pflichtete Jan ihm bei. „Ich war schon seit ewigen Zeiten nicht mehr da.“

      „Ich muss dann mal“, sagte

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