Ein Fall von großer Redlichkeit. Peter Schmidt

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Ein Fall von großer Redlichkeit - Peter Schmidt

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Theoretiker der Gegenwart“, was ihn nicht daran hindere, das etwas verschrobene Leben eines Einsiedlers in einer Gartenlaube am Stadtrand von Leipzig zu führen.

      Die Partei sehe ihm diesen Spleen nach, weil sie seine Verdienste schätze. Sie ehre ihn bei jeder Gelegenheit als einen der großen Söhne der Republik.

      Er gelte als scharfsinniger Kritiker des Kapitalismus. Seine Arbeiten würden auch im Westen beachtet.

      „Wissen Sie etwas über die Herkunft des Fotos?“

      „Nein, wie sollte ich?“

      „Und niemand trat deswegen an Sie heran?“

      „Nein.“

      „Margott wohnte im Düsseldorfer Akazien-Hotel. Glauben Sie, dass einer dieser windigen Reporter sich unerlaubt Zutritt zum Zimmer verschafft und das Foto aus seinem Gepäck entwendet haben könnte?“

      „Ich wusste nichts von der Adresse und sehe mich außerstande, diese Frage …“

      „Schon gut“, nickte er. „Es hat keine Bedeutung.“

      Er stellte ein paar belanglose Fragen über seine Ausbildung an der Universität. Zum Schluss erkundigte er sich nach dem Mann mit dem breitrandigen Hut.

      „Nie zuvor gesehen“, sagte Papst wahrheitsgetreu.

      „Von wem wurde er über die Beerdigung unterrichtet?“

      „Keine Ahnung.“

      „Könnte es sich um einen Verwandten handeln?“

      „Ich kannte Margott erst seit wenigen Wochen. Er pflegte nicht über private Verhältnisse zu reden.“

      Als Papst wieder auf der Straße stand, hatte er das Bedürfnis, alles abzuschütteln wie ein Hund die Regentropfen in seinem Fell – einfach so …

      Aber Margotts Tod war gewissermaßen nur das Ende in einer langen Kette „faulender Glieder“. Es bestärkte nur seinen Entschluss, endgültig mit dieser Seite der Welt Schluss zu machen. Der „innere Schweinehund“, nach Margotts Worten, war für eine Weile zu seinem Recht gekommen, doch er verspürte wenig Befriedigung darüber.

      Nichts drängte ihn, dieses Leben fortzusetzen, selbst wenn er es gekonnt hätte.

      Er ging in ein Café, setzte sich in die Nähe der Kasse und beobachtete das Treiben um sich her.

      Das Land der klingelnden Kassen, dachte er und nippte ohne Appetit an einem Pfefferminzlikör.

      Ein wenig beneidete er Margotts Bruder. Er war einfach in den Zug gestiegen. Sein Antrag auf Umsiedlung dagegen lag noch immer bei den Behörden, und nach der Ablehnung seiner Bewerbung an der Karl-Marx-Universität würde er sich weiter verzögern, falls man ihn nicht ganz ausschlug. Vielleicht hätte ich nichts vom „Papstschen System der Sprachidentifizierung“ erwähnen sollen. Es musste ihnen dubios erscheinen. Papst war bereit, jede Arbeit anzunehmen, die man ihm anbot. Angeblich gab es drüben keine Arbeitslosigkeit und ein gesetzlich verankertes Recht auf Arbeit.

      Er war sich im Klaren darüber, dass viele Leute diesen Entschluss belächeln würden. Man würde es als die fixe Idee eines Enttäuschten abtun. Die geläufige Fluchtrichtung war umgekehrt. Das sprach gegen ihn. Selbst mit der Verständnislosigkeit der Einheimischen musste er rechnen.

      Was ihn auf den Gedanken gebracht hatte, war weniger die Aussicht, irgendeine Arbeit zu finden – wenn er sich unter Wert verkaufte, würde es auch hier für einen Mann seiner Fähigkeiten kein unlösbares Problem sein –‚ als der Gedanke, auf etwas hoffen zu können.

      Er wünschte sich mehr Solidarität. Solidarität und Hoffnung …

      Dieser Staat war ein Land ohne Hoffnungen. Wenn er überhaupt auf etwas hoffte, dann darauf, sein Bruttosozialprodukt zu steigern. Eine Perspektive, die auf Dauer nicht befriedigen konnte. Auswanderer hatten zu allen Zeiten ferne Eilande und Kontinente betreten, um unter kläglichen Umständen, die weit unter dem alten Niveau lagen, ein neues Leben anzufangen, und was sie dazu getrieben hatte, war nach seiner Überzeugung weniger Abenteuerlust und pure Not gewesen als die Aussicht auf eine Perspektive und dass es Hoffnungen gab, die sich vielleicht eines Tages erfüllen würden.

      2

      Wenn er seine ältere Schwester auch einige Zeit der „familiären Nekrophilie“ verdächtigt hatte, weil sie ihr Hauptaugenmerk darauf verwandte, sich vorzustellen, welche unheilbaren Krankheiten, welche beinahe tödlichen Unfälle, Querschnittslähmungen und Amputationen sie oder eines der übrigen Familienmitglieder heimsuchen könnten, schätzte er es, abends in ein peinlich sauberes Haus zurückzukehren, in dem kein Schnitzel Papier herumlag, keine schmutzige Tasse auf dem Tisch stand und allenfalls einmal einer dieser grässlichen Köter in die Diele pinkelte, weil niemand sich darum gekümmert hatte, ihn in den Garten zu lassen.

      Die sterile Atmosphäre zwischen Stehlampen und wie unverrückbar dastehenden Lehnstühlen gab Papst das beruhigende Gefühl, irgendwo eine Zuflucht zu besitzen, auch wenn er sich gleich darauf in ihrem Kreise schon wieder als Außenseiter und Heimatloser fühlte – als der närrischen Onkel, der zum Zeitvertreib Worte auf ein Stück Papier kritzelte, um herauszufinden, von wem sie verfasst worden waren.

      Er ging Hedda wenn möglich aus dem Weg. In ihren Augen galt er als notorischer Müßiggänger, der nur deswegen einen so fern liegenden Beruf wie die Sprachwissenschaft gewählt hatte, um ungehindert seinem Laster zu frönen.

      Sie war diabetisch und litt an irrationalen Ängsten.

      Das alles war nach seiner festen Überzeugung ein Ergebnis der Sinnleere, wie sie sich auf dieser Seite des Eisernen Vorhangs zwangsläufig ausbreiten musste, wenn Wohlstand und Ordnung zu Götzen wurden. Eine hagere Frau in den Vierzigern. Jeder ihrer Bekannten hätte geschworen, sich an ihren grauen Haarknoten zu erinnern, obwohl sie seit dem vierzehnten Lebensjahr eine Ponyfrisur trug. Zwischen ihr und dem Haus schien eine geheime Seelenverwandtschaft zu bestehen.

      Je schäbiger es wurde, desto mehr umhegte sie es wie einen Kranken. Sie hing daran, obwohl sie sich mit dem verbliebenen Geld ihres Kontos leicht eine moderne Eigentumswohnung hätte kaufen können, in der keine Außenbretter im Winde quietschten.

      Es war ein mit hell gestrichenen Kirschbaumbrettern verschalter Backsteinbau aus den ersten Jahren des Jahrhunderts; er neigte sich bedenklich dem großen Birnbaum im Garten entgegen, in dem sich alle Katzen der Umgebung ihr miauendes Stelldichein gaben, weil es der sicherste Platz war, um die Hunde herauszufordern.

      Wenn Papst diese ein wenig skurrile Umgebung für kurze Ausflüge verließ, waren es Wege zu den Ämtern.

      Eine Übersiedlung in den Osten schien ihn in den Augen mancher Bürokraten sofort als Agenten zu entlarven.

      Doch auch die andere Seite wusste nichts Neues zu berichten. Sein Antrag werde bearbeitet. Man prüfe die Möglichkeit, ihn in einer Dresdener Kunststoffspinnerei als Bürokraft zu beschäftigen. Später einmal, man könne noch nicht sagen, ob und wann, werde er seinen Fähigkeiten gemäß eingesetzt. (Es sei das Ziel des Sozialismus, jeden nach seinen Fähigkeiten einzusetzen, erklärte der Beamte.)

      Zwei Wochen später war – er nahm an, durch seine wiederholte Nachfrage – aus der Dresdener Kunststoffspinnerei eine Teppichweberei in Wurzen

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