Der späte Besucher. Wolfgang Brylla

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Der späte Besucher - Wolfgang Brylla страница 5

Автор:
Серия:
Издательство:
Der späte Besucher - Wolfgang Brylla

Скачать книгу

Alberts Herz gewichen und hatte einer eisigen Taubheit Platz gemacht, die nur eine unbändige Wut erzeugen konnte. Fast erschien ihm in Anbetracht dieser inneren Kälte die Luft um ihn herum angenehm warm. Wenn er doch nur wie der Schneider seine Identität einem anderen übergeben und sein Leben von null an neu beginnen könnte. „Was würde ich dann anders machen?" fragte er sich. Er hatte doch nur das Rüstzeug dieses Lebens zur Verfügung.

      Inzwischen war er an der Ecke zur Ratinger Straße angekommen. Ihm gegenüber leuchtete das Reklameschild einer Altbiermarke und daneben der Name seiner ehemaligen Stammkneipe, der „Ühl". Äußerlich hatte sich hier nichts geändert in all den Jahren, die vergangen waren, seit er als junger Mann hier fast täglich zu finden war. In der „Ühl“ fand er einen freien Tisch, an dem er sich müde und fröstelnd niederließ. Er bestellte einen Korn für die innere Wärme und ein Alt aus Gewohnheit, dazu eine Wurstplatte gegen den Hunger. Wohlig rann der Korn durch seine Speiseröhre. Entspannung machte sich in ihm breit. Das kühle Bier hinterher holte in ihm die Erinnerung an glückliche Tage hervor. Jetzt war alles gut. So leicht war das manchmal.

      Albert streckte die Beine von sich, rutschte etwas nach vorne und betrachtete aus dieser halb liegenden Haltung heraus die wenigen Gäste, die sich zu dieser Zeit in der Kneipe eingefunden hatten. Heute kannte er hier keinen mehr. In seiner Jugend war immer jemand von den Kumpels in hier oder in einer der benachbarten Wirtschaften. Das gab ihnen das Gefühl von Sicherheit. Man wusste, wo man hin musste, wenn man sich allein, schlecht oder gut fühlte, wenn man Aufmunterung brauchte oder sich mitteilen wollte. So war seine Welt gewesen, Saufen, Feiern, Karten spielen, beim Pferderennen wetten, alles, was Nervenkitzel und Spaß brachte, alles was betäubte und was ihm half, rauszukommen aus dem inneren Leid. Und die Freunde waren immer dabei. Es ging oft um hohe Einsätze. Manchmal hatte er das Gefühl, es sei ein Spiel um sein Leben, um seine Existenz hier auf diesem Planeten.

      Meist trafen sie sich zunächst in der „Distel", einer kleinen Kneipe, die zwei Häuser neben der „Ühl“ lag. Die „Distel" war seine ultimative Stammkneipe. Hier tranken Büroangestellte, Looser, Träumer und die Schüler und Lehrer der benachbarten Kunstakademie miteinander. In diesem dunklen Loch wurden sie alle zu Teilnehmern eines unwirklichen Lebensplanes. Sie soffen, lachten und erzählten Geschichten, die nicht immer der Wahrheit entsprachen. Aber was war schon Wahrheit, damals wie heute? In dieser Welt war alles zu finden, nur keine Realität oder gerade die Realität, bei der die Normalität auf dem Kopf stand. Dort traf man auch damalige Berühmtheiten der Kunstszene wie Anatol, Kricke und auch schon mal den Beuys. Er fand es besonders, mit ihnen an derselben Theke sein Bier zu trinken. Aber meist standen dort eher die mittellosen Künstler, die ihre Streifzüge durch die Altstadt beendeten oder unterbrachen, nachdem sie versucht hatten, ein paar Bilder an Touristen zu verkaufen, um dann den Erlös in Bier und Schnaps umzutauschen. Und wenn sie nichts verkauft hatten, bekamen sie bei Moni Kredit. Moni, das war die Wirtin, die mit Liebe zu ihren Gästen den Laden führte und mit einem Bildhauer liiert war, der in seinen Schaffenspausen hinter dem Tresen aushalf. Diese Schaffenspausen waren so häufig, dass man schließlich meistens beide in der Kneipe antraf. Da jeder von ihnen auch gerne mit den Gästen gemeinsam feierte, konnte das auf Dauer nicht gut gehen.

      Das war vor einer Ewigkeit gewesen. Die "Distel" gab es schon lange nicht mehr. Der "Ratinger Hof", der einst für viele junge Musiker ihre Heimat bedeutete und in dem sie sich direkt nach der Schule am freien Nachmittag mit den anderen trafen, war zu einem öden Club mutiert, der dreimal die Woche seine Tore öffnete. Im "Ratinger Hof" hatte man am Abend und in der Nacht die Leute von Kraftwerk, Neu, oder La Düsseldorf an der Theke treffen können. ZK, die Vorgängerband der "Toten Hosen", hatte dort ihre ersten Konzerte gegeben. Wenn die "Distel" geschlossen hatte, war der "Hof" der Treffpunkt seiner Clique. Zuerst ging es in die "Ühl". Dort teilten sie sich eine Wurstplatte mit grober Leberwurst und vielen Zwiebelringen, damit sie eine Grundlage für die folgenden Alkoholexzesse hatten und für das, was sonst noch so kam. Sie tanzten Pogo mit den Punks im Hof. Campino, den heute so populären Sänger der Toten Hosen, nahm er damals noch gar nicht war.

      Hier fanden sich auch die Künstler, die er unter anderem aus der "Distel" kannte und die in der ca. 300 Meter entfernten Kunstakademie ihren Schaffensplatz hatten. An einige erinnerte er sich auch jetzt noch deutlich. Vor allem an den Maler Sigmar Polke, an Jörg Immendorff oder Joseph Beuys. Der Hof blieb bis zur Polizeistunde um ein Uhr morgens, die es damals noch gab und die schon mal gerne umgangen wurde, geöffnet. Vor der Tür gab es oft Randale zwischen Betrunkenen oder Drogenkonsumenten und der Polizei. Immer wieder gab es Razzien, wurde der "Hof" durch die Ordnungsbehörden geschlossen und immer wieder wurde er aufgemacht.

      Nach dem fünften Glas Altbier überfiel Albert Melancholie. Jetzt kommen die guten alten Zeiten, dachte er. Irgendwie war es damals besser, leichter. Man tat, wonach einem war, hatte kein Gefühl der Verantwortung für die eigene Person, sondern es zählte nur das große Ganze. Albert spürte, wie der Groll, der seit dieser Zeit in ihm saß, aufsteigen wollte und stürzte ihn mit dem nächsten Bier hinunter. Verdammt, er dachte auch an die unsäglichen Ängste, die in diesen Jahren seines Jungseins regelmäßig seine Euphorien hinwegspülten und ihn dadurch zu immer weiteren Exzessen trieben.

      Heute war er ein erfolgreicher Mann, der ein Teil der Gesellschaft war, die er damals abgelehnt hatte. Das war der Lauf der Geschichte. Und das Schlimme daran war, dass er es gut fand. Er war zufrieden, denn er machte mit dem, was ihm Spaß bereitete, sein Geld. Und diese Begeisterung an den eigenen Werken hatte bisher den größten Teil seines Erfolges ausgemacht. Zumindest war das eine lange Zeit so gewesen. Seit einigen Wochen fühlte er sich jedoch leer und verbraucht, trank zu viel und trauerte den alten wilden Zeiten nach. Und mit jedem Bier wurde es schlimmer. Damals waren sie viele, heute gab es die anderen nicht mehr. Sie hatten sich getrennt in zwei Gruppen. Die einen, die wie er begonnen hatten, scheinbar Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen, indem sie sich den Regeln der Gesellschaft unterwarfen. Einige waren erfolgreich, andere Mittelmaß, doch sie waren raus aus dem alten Lebensstil. Und diejenigen, die versucht hatten, so weiter zu machen. Die bis heute überlebt hatten, traf man an den alten Plätzen. Neulich hatte er einen von den alten Freunden von weitem auf sich zukommen gesehen. Seine Haare waren lang, die Jacke sah schmutzig aus, der Kopf nach vorne gebeugt. Albert hatte die Straßenseite gewechselt und war an dem ehemaligen Freund vorbeigegangen, als hätte er ihn nicht erkannt. Später hatte er sich dafür geschämt und war zurückgegangen an die Stelle, wo er dem anderen begegnet war. Doch der war schon fort, weit weg in seiner Welt, die eine andere war als die von Albert. Er hatte sich dafür beschimpft und fühlte auch jetzt wieder Wut in sich aufsteigen. Wie schizophren war es, gerade den alten Zeiten nachzutrauern, in denen er genauso wie der Freund herumgelaufen war, und diese gleichzeitig zu verurteilen? War es Angst oder Scham? Angst, dahin zurückzugehen, sich mitziehen zu lassen in die Vergangenheit? War er so wenig gefestigt in seiner Gegenwart, dass er sich vor dem Vergangenen verstecken musste? Die Welt drehte sich immer weiter, und das Leben hieß Veränderung. Ein Satz von Albert Einstein kam ihm in den Sinn: „Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim alten zu lassen und gleichzeitig zu hoffen, das sich etwas ändert."

      Viel zu spät und viel zu betrunken verließ Albert die Kneipe, winkte ein Taxi heran und ließ sich zu seiner Wohnung fahren.

      Müde ging er zum Aufzug und ließ sich in sein Reich befördern, welches alles andere als königlich war. Hier war schon lange nicht mehr aufgeräumt, geschweige denn geputzt worden. Das hatte noch nie zu seinen Vorlieben gehört, doch in der letzten Zeit ließ er seine Dinge einfach schleifen, mehr, als er es von sich gewöhnt war. Er benötigte seine ganze Energie, um seinen Job noch einigermaßen zufriedenstellend zu erledigen. Denn das entglitt ihm immer mehr. Diese Anstrengungen steigerten seine Kraftlosigkeit. Es kehrte so wenig von der Energie, die er aufwandte, um gut zu sein, um dem Chef und den anderen zu imponieren und zu gefallen, zurück zu ihm selbst. Er hatte gehört, dass es gut sei, wenn das Leben im Fluss ist. Aber dieser Fluss, in den sein Leben verströmte, war reißend und wich von ihm fort, floss aus ihm heraus, ohne dass etwas das Vakuum wieder auffüllte, welches dadurch entstand.

      Kapitel

Скачать книгу