Der späte Besucher. Wolfgang Brylla

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Der späte Besucher - Wolfgang Brylla

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wenn er sich in Ruhe auf alles einstellen konnte. Er machte sich gerne vorher ein Bild. „Warum mache ich das", fragte er sich? „Vielleicht, weil ich so die Möglichkeit habe, doch noch abzuhauen, ohne dass es auffällt. Wenn das Seminar schon begonnen hat, wäre es peinlich." „Nur nicht negativ auffallen", dachte er bitter. Wie viel Stress hatte es ihm schon bereitet, zu leben, ohne Stellung zu beziehen und aufzufallen? „Mein Leben besteht aus Absicherungen", dachte er und fühlte Brechreiz aufsteigen, bis sich die Spucke in seinem Mund zusammenzog. War er deshalb hier? „Ich bin halt so", sagte er wie zu seiner Entschuldigung. Aber vor wem entschuldigte er sich? Wieder fühlte er den Brechreiz, doch diesmal meinte er, darin eine gehörige Portion Wut zu erkennen.

      Obwohl er kaum Hunger verspürte, überredete er sich, etwas essen zu gehen. Der Hunger würde sonst kommen, wenn es nichts mehr gab und hier war er auf dem Land. Wenngleich er lieber in der schützenden Hülle seines Zimmers geblieben wäre, machte er sich schließlich, nachdem er noch schnell eine weitere Dose Bier geleert hatte, auf den Weg ins nahe gelegene Dorf. Der Weg hatte ihn durch den kalten Dezemberabend an einem kleinen See entlang geführt. Friedlich spiegelten sich die Laternen des Uferweges in dem ruhigen Gewässer. Der Schnee steigerte den Zauber dieses Ortes. Glitzernde Kristalle und tiefschwarzes Wasser bildeten einen bizarren Kontrast. Albert atmete die eiskalte Luft und sah durch den ausströmenden Atemnebel die Welt um sich herum wie in einem Traum. „Wie romantisch", dachte er und wurde traurig. Warum stand er hier alleine. Niemand war da, mit dem er diese Schönheit teilen konnte. Warum war keine Frau da, die er im Arm halten konnte. In den den Filmen, die er so kitschig fand und die doch Tränen in seine Augen treten ließen, was ihm peinlich war, wenn andere dabei waren, stand in solchen romantischen Situationen immer der Mann mit einer Frau im Arm, die ihren Kopf an seine Schulter legte und die er verliebt auf die Stirn küsste. „An was für einen Schwachsinn denkst du da? Das ist doch nicht das Leben, das sind Fantasien, die es in der Realität nicht gibt. Davon träumt jeder, deshalb werden diese Filme doch gedreht. Es ist unter deiner Würde, dir solch einen Mist vorzustellen.“ Er wusste, dass er unrecht hatte, aber das war unwichtig. Denn die Sehnsucht in seinem Herzen bereitete nur Schmerzen und die galt es, fernzuhalten.

      Im Gasthof bestellte er einen deftigen Braten und einen halben Liter Bier. Die meisten Gäste, die wie er in der Gaststube saßen, sahen nicht wie Einheimische aus. „Wie sehen Einheimische aus?", fragte er sich. Trugen sie Lederhosen und Dirndl? Er machte gerne diese Spiele, Vermutungen über Menschen in seiner Umgebung anzustellen, die er nicht kannte. Hier vermutete er, dass auch sie Teilnehmer des Seminars waren. Vor allem zwei Paare am Nachbartisch ordnete er dem Seminar zu. Sie entsprachen in ihrem Aussehen und der Art, wie sie miteinander sprachen, seiner Vorstellung von Menschen, die das Esoterische lieben und gerne zu solchen Seminaren reisen. Er nannte sie „Esos" oder „Ökos". Es war ungerecht, so über Menschen zu urteilen, die er nicht kannte. Das wusste er, aber so war er nun einmal und er fühlte sich nicht gut damit. „Das fängt ja gut an. Wie halte ich es drei Tage mit denen aus? Wenn's gar nicht geht, fahre ich halt wieder", dachte er und war erleichtert über den Notausgang, den er sich da anbot.

      Entgegen seinen Befürchtungen war der folgende Tag gar nicht so schlimm. Die meisten Frauen und Männer, die er beim Frühstücksbuffet traf, waren äußerlich ganz normal. Er fragte sich, warum die wohl hier waren. „Na ja, ich bin ja auch da", dachte er. Aber es beruhigte ihn, dass es auch „Normale" hier gab, mit denen er „normal" reden konnte. Natürlich gab es auch einige dieser „Esos", aber sie waren nicht einmal in der Mehrzahl.

      Er führte nette Gespräche mit den anderen an seinem Tisch, die, wie es sich herausstellte, auch zum ersten Mal bei einem solchen Seminar waren und neugierig auf das warteten, was sich ihnen bieten würde. Gemeinsam gingen sie nach dem Frühstück zu dem Saal, der als Seminarraum ausgewiesen war.

      An die hundert Menschen fanden in dem großen Raum Platz. Einige saßen schon auf den blau gepolsterten Stühlen, andere standen an Tischen, die an der Wand aufgestellt waren und auf denen Bücher und CD's lagen. Viele Plätze waren noch nicht besetzt, so dass Albert noch die Qual der Wahl hatte, was ihn immer sehr forderte. Sollte er hinten bleiben oder einen Platz in den mittleren Reihen suchen. Auf gar keinen Fall würde er sich nach vorne setzen. Da würde jeder mitbekommen, wenn er eher ging und deshalb würde er bis zum Schluss sitzen bleiben müssen. Diesem Zwang würde er sich auf gar keinen Fall unterordnen. In einer der vorderen Reihen machte Albert die Frau mit der roten Mütze aus. Er erkannte sie auch ohne die rote Mütze an ihren lockigen Haaren und dem Lächeln, das sie ihm schenkte, als sie ihn erkannte. Sie sah wirklich gut aus. Leider waren fast alle Plätze in ihrer Nähe besetzt. Außerdem saß sie schon verdammt weit vorne. Von hinten winkte ihm ein Mann zu und Albert erkannte den Gast, den er gestern am Aufzug getroffen hatte. Er erinnerte sich, dass dieser sich als Helmut vorgestellt hatte. Er zeigte auf einen freien Stuhl neben sich. Erleichtert winkte Albert der Frau zurück und schlängelte sich durch die hinteren Reihen, bis er den Platz neben dem Mann erreichte. Freudig begrüßte ihn der andere. Er schien kein Kommunikationsheld zu sein und war offensichtlich froh, jemanden zu kennen. Auch Albert war froh, einen Ansprechpartner zu haben und nicht wie ein einsamer Mensch in diesem Saal zu erscheinen. Er setzte sich auf den angebotenen Stuhl und streckte bequem die Beine vor sich aus. Sie redeten ein wenig über dies und das, wobei der andere immer wieder von seiner Frau erzählte, die schon dreimal solch ein Seminar besucht hätte und sich so verändert hätte. Jetzt sei es an ihm etwas zu tun, sonst würden sich ihre Persönlichkeiten allzu weit in verschiedene Richtungen entwickeln. Er habe schon einige Bücher zu diesem Thema gelesen und auch der Seminarleiter hätte ja schon sehr gute Bücher verfasst, die er alle kenne. Schließlich wollte er vorher wissen, auf was er sich da einlässt, auch wenn es ein Geschenk seiner Frau sei, welches er ohnehin nicht hätte ablehnen können, ohne eine Trennung zu riskieren. Albert merkte, wie sehr ihn dieser Mann langweilte und er bereute, sich keinen Platz neben der Frau gesucht zu haben. Aber er blieb sitzen, nickte und dachte, „du armer Wicht, glaubst du das eigentlich selber, was du mir da erzählst. Wie sehr hat deine Alte dich unterm Absatz.“ Glücklicherweise wurde die Musik, die bisher im Hintergrund gelaufen war, lauter, so dass der Mann aufhörte, zu reden. Albert kam endlich dazu, sich in Ruhe umzublicken. Die dicken, weißen Kerzen, die an den Seiten neben einer kleinen Bühne standen, hatte er schon wahrgenommen, als er hereingekommen war. Jetzt sah er auch die Blumenarrangements aus weißen Rosen drum herum, die in ihm eine angenehme, fast sakrale Stimmung auslösten.

      Das Adagio, gesungen von „Il Divo“, klang aus den großen Lautsprechern. Albert gefiel die Musik. Es gab Musik, die ihn in eine andere Welt versetzen konnte und diese gehörte dazu. Er fühlte Rührung und Sehnsucht und bemühte sich, so gelassen wie möglich zu wirken. Schließlich zeigte man nicht inmitten von Fremden seine Gefühle, da war er ein wahrer Meister des Verbergens.

      Der Seminarleiter betrat den Raum. Es war ein kleiner Mann um die Fünfzig, mit Bauchansatz und rasiertem Schädel, bekleidet mit Jeans und einem dunkelroten Hemd. Obwohl er klein war und unspektakulär gekleidet, ging von diesem Mann eine ganz besondere Ausstrahlung aus. Das erkannte Albert sofort und war deshalb auf der Hut. Solchen Menschen begegnete er mit ausgesprochener Vorsicht, denn es bestand die Gefahr, dass ihr Einfluss auf ihn zu stark sein könnte. Und das fürchtet Albert wie den Teufel, dass irgendjemand ihn vereinnahmen, ihm seine Freiheit rauben und so zum Sklaven seiner Wertvorstellungen machen könnte.

      Der Mann erzählte einige Geschichten und sprach von dem inneren Kind in jedem Menschen, von Vergebung, Anerkennung und Neuanfang. „Als Kinder glauben wir fast alles, was wir lernen, und so verlieren wir die Macht über unser eigenes Leben. Wenn wir unser Bewusstsein zurück erlangen, erkennen wir, dass wir irgendwann zugestimmt haben, all das zu glauben. Und so wie wir in all das Vergangene die Kraft unseres Glaubens investiert haben, sind wir auch die Einzigen, die sich diese Kraft wieder zurückholen können." Er sprach fröhlich und seine Stimme war warm. Albert hörte die Worte und wusste, dass der Mann recht hatte. Er sprach ihm aus dem Herzen oder wollte er nur in sein Herz eindringen? Albert blieb in kritischer Distanz, doch voller Hoffnung auf etwas, wovon er nicht wusste, was es war. Er hörte den Mann sagen, wie wichtig es sei, auch Vater und Mutter zu vergeben für das, was nicht gut gewesen war.

      Zuerst

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