Der späte Besucher. Wolfgang Brylla

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Der späte Besucher - Wolfgang Brylla

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sträubte sich gegen die Vorstellung, diesen Menschen zu vergeben. Waren es nicht sie gewesen, die ihn zu dem seelischen Wrack gemacht hatten, der er jetzt war. Der Vater, der nie da gewesen war, wenn er ihn brauchte. Die Mutter, die ihn mit ihrer übergroßen Fürsorge und Angst erdrückte, um ihn nicht zu verlieren. So hatte er gelernt, dass die einzige Chance, zu überleben war, sich wegzuducken, sich klein zu machen und in sich selbst zurückzuziehen. All das erfahrene Leid sollte er ihnen vergeben. Er hatte seinen Frieden mit ihnen gemacht. Das ja. Der Vater war inzwischen verstorben und in den letzten von Altersdemenz geprägten Tagen hatten sie sich angenähert. War es das, was der Mann da vorne meinte? Sicher nicht, aber vielleicht doch ein wenig? Und auch die Mutter, die in einem Altenheim lebte, besuchte er regelmäßig. War das nicht genug?

      Eine Frau neben ihm begann zu weinen. Auch an anderen Stellen im Raum hörte er schluchzen. „Albern," dachte er und versuchte unbemerkt die Tränen, die aus seinen Augen zu kullern begannen, mit einer Hand wegzuwischen. Vorsichtig schaute er zu seinem Nachbarn und sah, dass es diesem ähnlich zu ergehen schien. „Wie peinlich das ist", dachte er. „Kollektives Heulen, das ist ansteckend wie eine Influenza." Die Schluchzgeräusche wurden noch stärker, als Leonard Cohen sein „Halleluja" über die sehr gute Anlage in den Raum schickte. Bei diesem Song musste er sogar heulen, wenn er ihn im Autoradio hörte. Die rauchige Stimme des Sängers drang aus den großen Boxen tief in den Raum und noch tiefer in sein Herz. Immer noch versuchte er vergeblich, gegen die Tränen anzukämpfen. Schließlich ließ er der Sache seinen Lauf und auch er begann zu schluchzen, geschüttelt von seinen ungeliebten Emotionen. Wenn die Dämme einmal gebrochen waren, gab es kein Halten und es war egal, was danach noch folgte.

      Am Ende dieses Tages verzog sich Albert früh auf sein Zimmer. Er lag auf dem Bett, betrachtete das Bild vis à vis, welches ein Lichtwesen darstellte, das ihm die Hand zu reichen schien. Wie lächerlich, diese kindliche Darstellung von etwas, was man gar nicht darstellen kann, fand er. Das erinnerte ihn an die Bildchen, die sie als Kinder in der Kirche geschenkt bekamen, immer wenn sie zur Kommunion gegangen waren. Er dachte mit Hass an diese Kirche und den verlogenen Pfaffen, der den Kleinen Angst machte, indem er ihnen mit Teufel, Hölle und Fegefeuer drohte. Albert hatte es geglaubt damals und abends in großer Angst im Bett gelegen, wenn er am Tag Dinge getan hatte, die der Pfaffe zu den sündigen Taten zählte. Niemand war da gewesen, der den Kleinen beschützt hätte. Auch seine Eltern glaubten dem Mann der Kirche oder widersprachen ihm zumindest nicht. Und denen sollte er nun vergeben? Das ging doch gar nicht. Wut stieg in ihm auf, wenn er daran dachte. Er ergriff seine Jacke und ging in die dunkle Nacht hinaus. Der Himmel war sternenklar und die Luft eiskalt. Es tat gut. Schon bald fühlte sich sein Gesicht im schneidend kalten Wind an wie von Nadeln zerstochen. Er dachte nicht mehr an die Vergangenheit, sondern folgte den Sternen, bis die Eiseskälte ihn ins Haus zurücktrieb.

      Die Nacht war voller seltsamer Träume, die sich in ihren Handlungen zu wiederholen schienen. Ein helles Wesen erschien aus der Dunkelheit. Es breitete die Arme aus und streckte sie ihm entgegen. Angezogen von der Gestalt wollte er deren Hände ergreifen, doch da lösten sich diese in Nichts auf und er stürzte in eine tiefe Dunkelheit. Während er fiel, hörte er ein Lachen. Es war ein böses Lachen. Wieder war da das Wesen, schien ihn auffangen zu wollen, aber er stürzte hindurch und wieder erscholl dieses Lachen. Mehrfach erwachte er, jedes Mal schweißnass, und immer wieder fiel er in diesen furchtbaren Traum. Irgendwann stand er plötzlich vor einer goldenen Tür. Das helle Wesen deutete auf die Tür und hoffnungsvoll öffnete er sie, ging hindurch und - war wieder im Nichts. Er spürte eisige Kälte und Einsamkeit. Er war allein. In der Ferne erklang das bekannte, schreckliche Lachen.

      Ein gnädiger Wecker erlöste ihn von seinen Qualen. Duschen, Kaffee und Frühstück brachten ihn wieder in die reale Welt.

      Auch an diesem Tag versprach der Seminarleiter, dass die Annahme des Kindes in ihnen und die Vergebung an die Ahnen die Befreiung von allem inneren Leid bringen würde. Albert war durch die vorangegangene Nacht in einem halb schläfrigen Zustand. Erstaunlicherweise drangen die Worte nun anders an ihn heran und er fühlte das eine oder andere Mal ein angenehm wohliges Gefühl, während er der Musik lauschte. Der Seminarleiter forderte sie auf, mit dem Kind in ihnen Kontakt aufzunehmen. Er begann innerlich, heimlich, mit seinem kleinen Albert zu sprechen. Es entstand ein schönes Gefühl durch diesen Kontakt, neu und doch altbekannt.

      In der Mittagspause hatte er nur kurz bei den anderen gesessen, ein wenig von dem opulenten Buffet genommen, um bald aufzustehen und zum See hinunter zu gehen. Er wollte alleine sein. Zwar fühlte er sich nicht mehr so unwohl bei den anderen, auch wenn Helmut versuchte, sich wie eine Klette an ihn zu heften. Ohne ihn vor den Kopf zu stoßen, gelang es Albert jedoch, ihn immer wieder loszuwerden. „Der muss das doch mal merken, dass er mich nervt“, dachte er sich. Doch der andere merkte es nicht, weil er in seinem Film war und Albert nur sein Protagonist. Jetzt stand er am Seeufer und hatte das Gefühl, ganz nah bei sich zu sein. Das war ungewohnt. Was konnte er jetzt tun? Lachen, weinen, sich den Kopf zerbrechen? Oder sollte er den Seminarleiter fragen? Ein heftiger Schneefall ließ seine Gedanken in die Gegenwart zurückkehren. Auch war es Zeit, zurückzugehen, denn die Nachmittagsveranstaltung begann in wenigen Minuten und er wollte vorher noch eine Tasse Kaffee trinken. Der Nachmittag verlief wie der Vormittag. Beim Abendessen gelang es Albert, einen Platz am Tisch der Frau zu finden, doch die hatte sich inzwischen mit anderen Teilnehmern angefreundet und schien ihn gar nicht zu beachten. „Wieder mal zu spät“, dachte Albert und bemerkte deshalb nicht ihre kurzen Blicke, die darauf warteten, dass er sich um sie bemühte. Doch Albert tat das, was er immer tat. Er zog sich zurück in sein Schneckenhaus, aß schweigend und stand mit einem höflichen Abschiedsnicken, der Allgemeinheit zugewandt, vom Tisch auf. Er verzichtete auf die Abendveranstaltung, zu der er auch gestern nicht gegangen war, von der aber alle, die dort gewesen waren, geschwärmt hatten. Den ganzen Tag und dann auch noch den Abend mit so vielen Menschen in Gemeinschaft zu erleben, das war zu viel für ihn.

      Auch in dieser Nacht träumte Albert wieder intensiv. Diesmal stand er am Ufer des Nils. Hinter ihm lag der Weg, auf dem in den Zeiten der ägyptischen Pharaonen am Neujahrstag die Statuen der Götter Amun, Mut und Chon in einer heiligen Prozession auf tragbaren Barken zu dem Karnak-Tempel gebracht wurden. Von Ferne hörte er Singen und Stimmengemurmel, konnte jedoch nichts sehen. Die Stimmen verklangen langsam, während ein kleiner Junge in einem schmutzigen, ehemals weißen Burnus erschien. Der Junge lehnte an einer der Säulen des Tempels. Auf einmal war er ganz nah und schnitzte an einem Stück Holz. Er schien ihn nicht zu bemerken, war ganz versunken in sein Schnitzwerk. Albert stand vor dem Kleinen und schaute ihm zu. Er fühlte sich sehr vertraut in diesem Moment. Nach einer langen Zeit erhob sich der Junge und kam auf ihn zu. Langsam hob er die rechte Hand und streckte sie ihm entgegen. Zwischen seinem Daumen und Zeigefinger hielt er einen kleinen Skarabäus.

      „It's for you", hörte er den Kleinen sagen. „I have no money", antwortete Albert, der, wie er jetzt bemerkte, nur ein weißes Hemd, welches ihm bis zu den Knien reichte, trug. „It's for you", wiederholte der Kleine nun eindringlicher und legte den Käfer auf einen Stein neben seinen rechten Fuß. Neben dem Stein bemerkte Albert eine Königskobra, die zusammengeringelt in der Sonne döste. Ohne die geringste Angst sah Albert die Schlange an und bemerkte, wie heiß es war. Als er seinen Blick von dem Reptil zu dem Ort lenkte, an dem der Kleine gestanden hatte, war dieser verschwunden. War er nur eine Fata Morgana gewesen? Doch der Skarabäus lag noch dort. Langsam beugte sich Albert nieder, ohne die schlafende Schlange zu stören und nahm das steinerne Insekt in seine Hand. Die Figur lag kühl und angenehm in seiner Hand. Während seine Finger über den glatten Rücken des Käfers strichen, wurde sein Blick in die Ferne gezogen. Dort sah er wieder den Jungen. Weit entfernt stand der Kleine neben der letzten Säule des Tempels, lächelnd und winkend. „For you", hörte Albert die Knabenstimme von weitem rufen und lachen. Dann verschwand der Junge endgültig in der Weite des grellen Lichtes.

      Ob er noch mehr geträumt hatte, wusste Albert nicht. Er erwachte noch vor dem Läuten des Weckers. Erstaunt erwartete er, einen Skarabäus in seiner Hand zu finden. Doch die Hand war leer.

      Kapitel

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