Der späte Besucher. Wolfgang Brylla

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Der späte Besucher - Wolfgang Brylla страница 10

Автор:
Серия:
Издательство:
Der späte Besucher - Wolfgang Brylla

Скачать книгу

erregte. Offensichtlich war es ein alter Grabstein, der in der Dunkelheit unlesbar in verwitterten Worten an den Verstorbenen erinnern sollte. Albert lehnte sich an den Stein und holte eine Dose Bier aus seiner Tasche. „Auf dich, wer immer du warst", sprach er und trank. Ein Dackel mit einem kleinen Mann im Schlepptau zog vorüber. Der Mann schaute misstrauisch zu ihm herüber, der Dackel beachtete ihn nicht. Dackelbesitzer waren ihm seit jeher suspekt, vor allem, wenn ihr Gang und ihre Körperhaltung dem Tier so ähnlich geworden waren wie bei diesem hier.

      Er trank, was in dieser Kälte keinen wahren Genuss darstellte, bis die Dose leer war. Die Eiseskälte ließ seine Lippen an dem Aluminium kleben. Aber das störte ihn nicht. Das Blech der Dose war wie das erfühlte Symbol von Geborgenheit. Es war die Verkörperung einer nicht gekannten Mutterbrust, die Vertrauen ins Leben geben konnte.

      Nach einigen Minuten kroch die Kälte so sehr unter seinen Mantel, dass er sich auf den Rückweg zum Hotel machte. Noch immer war niemand an der Rezeption, nur die Fußballgesänge im Hintergrund waren zu hören. „Spielen die am Tag vor Silvester noch Fußball?", überlegte er. Wahrscheinlich war es ein Jahresrückblick, dachte er weiter und bemerkte, dass es ihn eigentlich nicht interessierte.

      Er hätte klingeln können, aber warum? Wollte er etwas? Er wusste es nicht so genau und ging zögernd weiter. Auf dem Zimmer angekommen, fühlte er sich einsam. Das war die Kehrseite seines Lebens. Keine Beziehung hielt lange, so dass er immer wieder in seine sogenannte Unabhängigkeit eintauchen konnte. Auch die letzte Beziehung war vorbei. Diese hatte länger gehalten als üblich, einige Jahre, wenn er es genau betrachtete. Sie waren zusammengezogen, nicht ohne Zweifel, jedoch mit viel Hoffnung. Die Zeit mit ihr war wie eine Ozeanüberquerung gewesen, ruhige Zeiten wechselten mit heftigen Stürmen ab, die manchmal die Wellen bedrohlich hochschlagen ließen. Irgendwann fand Sie einen anderen, der zwar nicht besser zu ihr passte, wie Albert fand, ihr aber die Ruhe und Anerkennung schenkte, nach der sie sich immer bei ihm gesehnt hatte und die er ihr so gerne gegeben hätte. Aber wie sollte er wissen, wie man diese einem geliebten Menschen gab, wenn er sie sich selbst nicht zugestehen konnte?

      Der Seminarleiter kam ihm wieder in den Sinn, der gesagt hatte, dass man andere nur lieben kann, wenn man sich selbst liebt. „Liebet euren Nächsten wie euch selbst", hatte er Jesus zitiert. Aber das war schwer, wenn die Vorbilder, die man in der Kindheit gehabt hatte, einem genau das Gegenteil vorgelebt hatten.

      Er dachte auch an die Menschen, die ihm im Seminar begegnet waren. Einige fehlten ihm jetzt sogar. Die Frau mit der roten Mütze, oder Gerd, ein Schreiner aus Ulm, der begeistert von dem war, was er auf dem Seminar erleben durfte und mit dem er viel Spaß gehabt hatte. Oder die Frau, die gestern im Seminar neben ihm gesessen hatte. Eigentlich war sie zu alt für die Zöpfe, die sie sich geflochten hatte und er hatte sie daraufhin in die Schublade „Öko" oder „ESO" gesteckt. Aber ihr Lächeln war bezaubernd gewesen und er fand ihre Augen wunderschön. Auch ihr Körper hatte ihn angezogen und er hatte sich vorgestellt, wie er mit ihr im Bett lag, ihren Körper spürte und ihre Zöpfe entflocht. Aber das blieb, wie so oft, wenn er begann, sich für eine Frau zu interessieren, Fantasie und am nächsten Tag war er ja abgereist. Sogar Helmut fehlte ihm ein wenig, denn da war viel Gemeinsames gewesen, was er nicht hatte sehen wollen. Nun war er hier und ihm wurde bewusst, wie einsam er war. Ja, das war die Kehrseite seines unabhängigen Lebens. Aber wie hieß es so schön: „Du hast keine Chance, also nutze sie.“

      Der Abend ging, die Nacht verlief nahezu traumlos. Zumindest konnte er sich nicht daran erinnern, geträumt zu haben. Beim Frühstück unterhielt er sich mit seinem Tischnachbarn über belanglose Dinge. Es tat ihm gut, zu reden, und der Mann war irgendwie sympathisch unaufdringlich. Auch der Mann von der Rezeption verhielt sich absolut neutral, professionell zuvorkommend und distanziert. So war es für Albert das Beste, vor allem am Morgen, denn er gehörte zu den Menschen, die man allgemein in die Schublade Morgenmuffel einsortierte und dazu bekannte er sich auch ganz offen. „Achtung, ich bin ein Morgenmuffel, Vorsicht beim Näherkommen", stand in unsichtbaren Worten auf seiner Stirn geschrieben. So begann der Tag ganz nach seinen Vorstellungen und er fragte sich natürlich wieder zweifelnd, ob das so bleiben würde. Das war seine ganz normale Reaktion auf ein gutes Gefühl oder ein schönes Erlebnis. Diese Art zu denken gehörte zu ihm wie der Alkohol oder die Flucht. „Ich merke schon, dass dieser Tag richtig gut beginnt", dachte er belustigt über seine Grübeleien und schüttelte den Kopf. Sein Gegenüber schaute ihn an und erwartete nun offensichtlich, dass er etwas sagen würde. Doch er ließ es bei dem Kopfschütteln und sagte kein weiteres Wort. Auch der andere sprach nichts und so saßen sie schweigend, bis der Kaffee ausgetrunken war.

      Kapitel 4

      Es war der 31. Dezember. Albert hätte nicht sagen können, warum er der Meinung war, dass dieser Tag ein besonderer werden würde. Eigentlich glaubte er es in diesem Moment auch nicht bewusst, sondern meinte erst später, es gespürt zu haben. Er unternahm einen wundervollen Spaziergang entlang des Seeufers. Die Sonne schien wieder strahlend vom blauen Himmel. Es war ein Winterbilderbuchwetter, eiskalt und klar. Er musste die Augen zusammenkneifen, um sehen zu können. Er hatte keine Sonnenbrille auf die Reise mitgenommen, was er nun bereute. Der Schnee hatte bis zum Wasser, welches kontrastreich das Blau des Himmels angenommen hatte und träge ans Ufer waberte, die Landschaft ringsherum in ein weißes Kleid gehüllt. Alte herrschaftliche Villen säumten seinen Weg, die den Reichtum ihrer Besitzer aus vergangenen Zeiten ahnen ließen. Albert stellte sich vor, in einer dieser Villen mit Park zu gelebt zu haben. Wie er dort wilde Feste gefeiert und viele Frauen gehabt hätte. Die Leute hätten über ihn geredet und in den Klatschspalten wäre er ein häufiger Gast gewesen. Eine junge Frau mit sehr kurzem Rock lenkte seine Aufmerksamkeit von den alten Gemäuern auf die Lust der Zeit. Er blickte ihr nach, was sich an sich nicht gehörte, wie er dachte, aber sie war zu schön und sexy, um es nicht zu tun.

      Bald erreichte er Lindau, ein altes Städtchen auf einer Halbinsel, in dem er zwar nicht hätte leben wollen, da es ihm zu provinziell erschien, welches ihn aber wegen seiner alten Häuser und Gassen und der idealen Lage am See begeisterte. Er schlenderte durch die Maximilianstraße, die zugleich Fußgängerzone und Hauptstraße der Inselstadt war. Gut erhaltene Bürger- und Handwerkerhäuser aus dem 16. und 17. Jahrhundert mit ihren Laubengängen, Brotlauben, den geschnitzten Fenstersäulen, Erkern und den teilweise überputzten Fachwerkfassaden fanden sein fachliches Interesse. Die Straßen waren in dieser Jahreszeit wenig belebt. Er sah ein paar Holzbuden auf dem Bismarkplatz vor dem alten Rathaus. Das Rathaus war 1422 gotisch erbaut und 1576 mit einem Treppengiebel in Renaissance-Stil erweitert worden. Ihn faszinierte die kitschige Ausprägung dieses Gebäudes. Die Fassade war zudem von einer großen, überdachten, ursprünglich hölzernen Freitreppe geschmückt, die in einen Erker mündete. Noch kitschiger sprangen ihm die üppig historisierenden Malereien an der Südfront entgegen, mit denen im 19. Jahrhundert landestypisch die Fassade geschmückt worden war und welche die Lindauer Geschichte darstellten. Direkt daneben befand sich das Neue Rathaus. An einem der vom Weihnachtsmarkt übrig gebliebenen Stände kaufte er sich eine heiße Bratwurst und einen Glühwein.

      Während er trank, stellte sich ein seltsames Gefühl ein. Es war, als wäre etwas Bekanntes in seinen Gesichtskreis gelangt. Er schaute sich verwundert um, sah jedoch niemanden. Was war das für ein Gefühl, altbekannt und seltsam fremd? Er trank den Becher leer und ließ ihn noch einmal mit Glühwein auffüllen. Zufällig schaute er, während er an dem heißen Getränk nippte, über den Platz hinweg auf die andere Seite. Dabei blieb sein Blick an einem der alten Häuser kleben, in denen unterschiedliche kleine Läden und Geschäfte in Miniaturschaufenstern ihre Produkte und Dienstleistungen bewarben. Hinter der Fensterscheibe eines der Häuser sah er ein Bild, welches er aus seinem Traum zu kennen meinte. Da wusste er, was dieses Gefühl hervorgerufen hatte. Es waren die Tempel von Karnak, dem heutigen Luxor. Daneben hing ein Bild der Nofretete und daneben der Sonnenuntergang über dem Tal der Könige. Vielleicht war es auch der Sonnenaufgang. Er dachte nicht weiter darüber nach, sondern nahm den halb vollen Glühweinbecher in seine Hand und ging mit zögerlichen Schritten auf das Schaufenster zu, so als könnte sich das Haus jederzeit in einen Tempel verwandeln

Скачать книгу