Sieben Leben. Stefan Kuntze

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Sieben Leben - Stefan Kuntze

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am Mainufer und Marianne - von einem heiligen Schauer ergriffen - begann, den anderen die Größe des Universums zu erläutern.

      An der Akademie ging das Leben seinen gewohnten Gang. Pünktlich am 11. November um 11 Uhr 11 wurde wie jedes Jahr der Karneval eröffnet. Für die Studierenden aus der Frankfurter Umgebung war es närrische Übung, einen Akademiefasching zu organisieren. Den Berlinern und den sonstigen Nord- und Ostdeutschen, die so etwas aus ihrer protestantisch-preußischen Heimat nicht kannten, kam dieses Fest eigenartig vor. Deshalb ging es ihnen bei der zunächst als albern und kindisch empfundenen Verkleidung nicht um ein besonders witziges oder exzentrisches Kostüm. Man musste den Eindruck gewinnen, sie hätten bei ihrer Wahl etwas ausgesucht, was den heimlichen Wünschen an die eigene Erscheinung entsprach. Die Verkleidung war ernst gemeint.

      Von diesem Abend existiert eine Schwarz-Weiß-Fotografie, die Bruno im eigenen Labor im Keller des Akademiegebäudes entwickelt hat. Karl trägt darauf den Russenkittel und eine Kosakenmütze aus weißem Pelz. Unglücklicherweise sind seine Augen auf dem Bild geschlossen und mit seiner typischen Haltung der vor dem Oberkörper gekreuzten Arme wirkt er, als ob er schliefe. Da wundert es nicht, dass die neben ihm sitzende Marianne in ihrem ärmellosen, mit einer asymmetrisch und senkrecht verlaufenden Borte verzierten Kleid und dem glänzenden Stirnband, etwas elegisch in die Kamera schaut. Ihr rechter Ellenbogen stützt sich auf Karls Schulter. Thea sitzt in einem identisch geschnittenen und gestalteten Kleid weiter rechts und blickt abwartend-kritisch zum Fotografen. Beide hätten in ihrer Aufmachung direkt aus dem Dix’schen Großstadttriptychon entstiegen sein können.

      In den Weihnachtsferien war Karl zum Fest nach Berlin eingeladen. Marianne feierte mit großer Party, damals Hausball genannt, ihren 20. Geburtstag. Außer seiner Erscheinung hatten seine politischen Aktivitäten sie mehr fasziniert, als sie sich eingestehen wollte.

      Zahlreiche Verwandte und Freunde waren in der großbürgerlichen Wohnung der Familie Bose in der Hasenheide 68 versammelt. Das Interesse galt besonders dem Auserwählten. Vater Bose war mit Parteizugehörigkeit und Berufswahl des jungen Mannes sehr einverstanden.

      Das Balkonzimmer mit dem Blick auf das grüne Hasenheidegelände war leergeräumt. Es stellte den „Salon“ dar. In einer Ecke stand ein Grammophon. Es wurde getanzt und das war für Karl die Chance, bei Mariannes Freundinnen und Kusinen Eindruck zu machen. Sie war ziemlich stolz auf ihn. Thea blinzelte ihr verschwörerisch zu, als sie einander im Gang begegneten.

      „Ich habe dir doch gesagt, dass er wirklich was kann. Geh rasch in dein altes Zimmer und sieh dir an, wie er mit Lore tanzt.“

      Marianne hatte selber bemerkt, wie geradezu edel er aussah in den fließenden Bewegungen eines Foxtrott. Beim Tanzen verlor er alles sonst zu beobachtende Linkische. Sein Gesichtsausdruck war gelöst und konzentriert zugleich. Vielleicht war er doch der Richtige.

      Versäumte Begegnungen

      Karl erlebte ein unbeschwertes erstes Semester mit seinem neuen Freundeskreis. Wie gut, dass er aus der kleinen pommerschen Welt herausgekommen war! Besonders interessant fand er Berichte von Landschulheimen, von denen in diesen Jahren viele betrieben wurden. In der Walkemühle bei Melsungen existierte ein besonderes Beispiel dieser pädagogischen Richtung. Es hieß, einer der dortigen Dozenten sei ein Sozialist. Das faszinierte ihn.

      Wie andere kluge Köpfe zu Beginn des 20. Jahrhunderts wollte der 1896 geborene Hellmuth von Rauschenplat nach den Schrecken des industrialisierten Krieges und dem Zusammenbruch des engstirnigen Kaiserreichs am Aufbau einer gerechteren Gesellschaftsordnung mitwirken, um für die Zukunft Katastrophen zu verhindern.

      Diese zukünftige Gesellschaft konnte – darin war er sich mit vielen Linken einig – nur eine sein, die den Kapitalismus, d.h. die Herrschaft der Besitzenden über die Werktätigen und die Orientierung am Profit, überwunden hatte. Alle fortschrittlichen Kräfte träumten während der Jahre der ersten deutschen Demokratie von etwas, das sie Sozialismus nannten.

      Auf seinem Weg von der Universität ins Leben hatte von Rauschenplat sich im Jahre 1921 dem von Leonard Nelson gegründeten Internationalen Jugendbund (IJB) angeschlossen. Mit seinen 25 Jahren und dem Studienabschluss samt Promotion in der Tasche fand er hier seinen Platz bei der Gestaltung der Zukunft.

      Die streng nach dem Führerprinzip aufgebaute Organisation stellte an ihre Mitglieder hohe Anforderungen. Ein Eintreten für einen „liberalen“ Sozialismus wurde ebenso verlangt wie der Austritt aus der Kirche. Gleichzeitig verpflichtete die von Nelson propagierte neue Lebensform zu vegetarischer Ernährung, weil aus einem umfassenden Weltverständnis heraus der Schutz der Tiere zum richtigen Leben gehörte. Verzicht auf Alkohol und Tabak ergänzten die rigiden Verhaltensregeln.

      Ein weiteres Postulat war das der „Bindungslosigkeit“. Wer zum Kreis derer gehören wollte, die eine führende Rolle bei der Entwicklung der Gesellschaft spielen würden, durfte nicht durch persönliche Bindungen wie Ehe und Freundschaft abgelenkt sein. Sogar schriftliche Korrespondenz mit Angehörigen sollte unterbleiben und sexuelle Kontakte waren nicht erwünscht.

      Es leuchtet ein, dass die Rekrutierung von Menschen, die diesen Anforderungen genügen konnten, nicht einfach war. Eine zwingende Logik stand daher hinter dem Aufbau einer eigenen Schulungsstätte. In dem vom Reformpädagogen Ludwig Wunder 1921 gegründeten Landeserziehungsheim Walkemühle fand Nelson die ideale Bildungsstätte.

      Sie erhielt 1924 vom preußischen Minister für Wissenschaft Kunst und Volksbildung die Genehmigung zur Aufnahme von grundschulpflichtigen Kindern. Unter der Ägide des IJB widmete sich die Walkemühle nicht nur der Erziehung von Kindern und Jugendlichen, sondern als eine Art Kaderschmiede der Schulung der für die kommende Gesellschaft benötigten Führungspersonen. Nach Nelsons Lehre war es Aufgabe des IJB und der Nachfolgeorganisation, des ISK, politische Führungspersönlichkeiten auszubilden, die eine Herrschaft der Vernunft installieren könnten. Führer wurden nicht gewählt, sondern sie ernannten sich gewissermaßen selber. Nur die am besten Ausgebildeten mit der höchsten persönlichen Qualität würden die „Partei der Vernunft“ leiten. Die bloße Mehrheit könne einem höheren Wert, dem Recht, nicht zum Durchbruch verhelfen.

      Rasch entwickelte sich von Rauschenplat zum wirtschaftspolitischen Kopf der Bewegung. Der Marxismus und insbesondere der historische Materialismus galten als Irrtum, aber eine Umverteilung in Form von Enteignungen wurde trotzdem für notwendig erachtet. Nicht die Produktionsmittel, um die es den marxistischen Gruppen ging, sondern Grund und Boden einschließlich der nicht reproduzierbaren Bodenschätze waren zu vergesellschaften. In diesem Sinne entwickelte er ein Programm.

      Der elitäre Zug in dieser Gedankenwelt, die Geringschätzung der „normalen“ Demokratie und die unklaren wirtschaftspolitischen Positionen ließen es der SPD 1925 geboten erscheinen, die Mitgliedschaft im IJB als unvereinbar mit der in der Partei zu erklären. Die ehemaligen Kommunisten und KAPD-Leute wie Schröder und Reichenbach waren der Partei Problem genug. Die KPD hatte einen ähnlichen Beschluss bereits 1922 gefasst.

      Nun blieb Nelson und seinen Gefolgsleuten nichts anderes übrig, als die lange angedachte eigene Partei zu gründen. Mit Beginn des Jahres 1926 war die politische Landschaft um eine Facette reicher, nämlich um den Internationalen Sozialistischen Kampfbund (ISK). Von Rauschenplat gehörte zu den Mitgründern und bereits ab 1924 lehrte er Ökonomie in der Walkemühle.

      Zahlenmäßig und bei den Wahlen, zu denen sie trotz antiparlamentarischen Denkens aufrief, an denen sie aber selber als Partei nicht antrat, spielte diese Gruppierung keine Rolle. In der Zeit des Nationalsozialismus zählten ihre wenigen Mitglieder zu den einfallsreichsten und öffentlichkeitswirksamsten Widerstandskämpfern.

      Die Landschulbewegung repräsentierte in den Zwanzigerjahren eine der fortschrittlichen pädagogischen

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