Sieben Leben. Stefan Kuntze

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Sieben Leben - Stefan Kuntze

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um Schivelbein glänzten stumpf. Zwei Knaben versuchten, aus der nassen und schmutzigen Masse zwischen den knorrigen Apfelbäumen etwas zu formen, was ein Schneemann werden sollte. Der knapp zehnjährige Karl und sein zwei Jahre jüngerer Bruder Heinz zitterten am ganzen Leib. Die kalte Luft verwandelte ihre nassen Kleider in Eishüllen. Man hätte denken können, der in Hinterpommern gefürchtete Wind aus dem Osten komme an diesem Januartag des Jahres 1919 direkt vom Roten Platz in Moskau.

      „Kinder, kommt sofort ins Haus!“

      Die klare und melodiöse Stimme trug weit. Elsbeth Kuntze wäre gerne Sängerin geworden, aber einen solchen Wunsch hätte sie in ihrer Familie nie äußern dürfen. Ihr Vater Richard Schröder hätte bestenfalls gelacht und darauf aufmerksam gemacht, dass Mädchen keine höhere Ausbildung bräuchten und schon gar nicht in Musik. Ihre Bestimmung sei es, einen anständigen Mann zu finden und zu heiraten.

      Sie musste sich an der Haustüre festhalten. Seit dem langen Krankenhausaufenthalt verursachte jede Anstrengung einen leichten Schwindel. Sie war zwar erst 35 Jahre alt, wirkte aber älter, ja, fast ein wenig verbraucht. Auf ihrem breiten Gesicht unter den leicht gewellten kurzen Haaren bildete sich ein dünner Schweißfilm. Sie fröstelte.

      „Kinder, wo seid ihr? Kommt bitte schnell. Wir müssen euch etwas sagen.“

      Die beiden Kuntze-Söhne waren froh, ihre Aktivitäten beenden zu können. Karl, ergriff die Hand von Heinz.

      „Wir dürfen Mutter nicht warten lassen. Komm mit, wir machen morgen weiter!“

      Im Wohnzimmer des Eisenbahnerhäuschens erwartete sie eine Überraschung. Der Bruder ihrer Mutter saß mit Vater am Tisch. Er stand auf, als die Beiden in den Raum gestolpert kamen. Unter den buschigen Augenbrauen fixierte er seine beiden Neffen.

      „Na, ihr Beiden, habt ihr noch Schnee gefunden?“

      Sein sonst so gepflegter Schnauzbart wirkte etwas zerzaust und lange Haarsträhnen hingen in sein Gesicht.

      „Onkel Karl, das ist ja schön, dass du uns besuchst!“

      Waldemar Kuntze, der noch die grauschwarze Eisenbahnerkluft trug, kratzte sich die hohe Stirn, die unter den beiden Geheimratsecken strenge Falten zeigte.

      „Jetzt hört bitte zu! Euer Onkel wird ein paar Wochen bei uns wohnen.“

      Karl strahlte über das ganze Gesicht, das ähnlich dem seines Vaters breit und rechteckig geformt war.

      „Au fein, dann kannst du mit uns Schlittschuh laufen gehen.“

      Waldemar griff nach der auf dem Tisch platzierten Schnapsflasche und füllte die bereits benützten Gläschen.

      „Draus wird nichts! Niemand darf wissen, dass Onkel Karl bei uns lebt. Ihr seid schon große Jungens und ich bin mir sicher, dass ihr ein Geheimnis für euch behalten könnt.“

      Elsbeth, die inzwischen das Zimmer betreten hatte, blickte missbilligend auf die Flasche.

      „Mein Bruder muss sich hier vor bösen Menschen verstecken.“

      „Aber warum? Was wollen die bösen Menschen von ihm?“

      Karl Schröder leerte das Glas in einem Zug.

      „Das ist nichts für kleine Jungens. Ihr versprecht mir auf die Hand, dass ihr niemandem erzählt, dass ich hier bin. Ist das klar?“

      Er streckte seine rechte Hand aus. Karl schlug mit seiner darauf.

      „Klar, Onkel, aber was ist mit dem Schlittschuh laufen?“

      „Daraus wird diesmal nichts.“

      Enttäuscht gingen die beiden Knaben am Abend ins Bett.

      „Das ist richtig gemein von den Erwachsenen, dass sie uns nichts sagen. Wir würden bestimmt nichts verraten.“

      Karl beschloss, in der nächsten Zeit seinen Onkel so lange zu löchern, bis er irgendetwas von dem offenbar schrecklichen Geheimnis herausrückte. Nach acht Tagen hatte er einen kleinen Erfolg. Er kam von der Klavierstunde nach Hause und traf seinen Onkel, der beim Geräteschuppen stand und versuchte, eine Pfeife anzuzünden.

      „Wovor musst du dich verstecken? Ich werde niemandem etwas sagen. Großes Indianerehrenwort!“

      Karl Schröder lächelte und entzündete ein neues Streichholz. „Ach, Karlchen, das ist eine sehr komplizierte Sache.“

      „Ich bin kein Baby mehr und ich weiß auch schon viele Sachen.“

      Eine dicke Rauchwolke quoll aus dem Pfeifenkopf.

      „Du bist ein kluges Kerlchen. Also, hör zu, es ist so: Die wollen mich totschießen.“

      Karl erschauerte und erinnerte sich an die Kampfgeschichten, die er in dem dicken Indianerbuch, dem ‚Lederstrumpf‘, gelesen hatte.“

      „Wer will dich umbringen?“

      „Böse Soldaten, die Arbeiter und ihre Freunde töten.“

      „Aber warum denn?“

      „Mein lieber Junge, wir haben die Revolution begonnen in Berlin.“

      „Die Revolution? Was ist das denn?“

      „Weißt du, meine Freunde und ich, wir hatten im Dezember das Deutsche Reich fast gewonnen, aber dann haben die Sozialdemokraten alles kaputt gemacht und Wahlen angesetzt. Die haben nichts begriffen! Im Januar mussten wir deshalb kämpfen und dann hat die SPD doch tatsächlich böse Freikorpssoldaten auf uns Spartakisten losgelassen.“

      „Was sagst du, Sozialdemokraten, Spartakisten, Freikorpssoldaten? Das verstehe ich nicht.“

      „Wie bitte? Entschuldige, Karlchen, das musst du auch nicht. Vergiss das alles und erzähle bitte niemandem etwas, auch nicht deinen Eltern.“

      „Versprochen.“ Verwirrt sah Karl den Rauchkringeln nach, die sich aus dem Mund des Onkels in die kalte Januarluft kräuselten. Sie gingen miteinander ins Haus.

      Karl Schröder hatte bei den Januaraufständen in Berlin-Lichtenberg gekämpft, was er Jahre später in seinem Roman ‚Die Geschichte Jan Beeks‘ literarisch verarbeitete. Bevor er am Tempelhofer Feld mit anderen Genossen zu Tode gekommen wäre, hatte er Berlin verlassen. Die Häscher der Brigade Berlin und vor allem die Schlächter aus den Freikorps unter Gustav Noske waren hinter allen her, die an den Aufständen teilgenommen hatten. Über 150 Revolutionäre kamen in diesen Januartagen zu Tode. Schlimmer noch waren die Gewaltexzesse nach der Besetzung Berlins durch die Freikorpssoldaten.

      Der Lärm der Novemberrevolution war bis nach Hinterpommern gedrungen und man hatte von den Januarereignissen und dem Spartakusaufstand in Berlin gehört. Waldemar Kuntze, der schon vor einiger Zeit in die SPD eingetreten war, war nicht erfreut über diesen Gast, aber bei aller politischen Differenz blieb die familiäre Solidarität heilig.

      Also durfte der Revolutionär bleiben. Vielleicht spürte Waldemar ein schlechtes Gewissen, weil die Einheit der Arbeiterklasse schon bei einer ersten Bewährungsprobe in Blut und Tränen zerstoben war. Friedrich Ebert, der sozialdemokratische Führer einer Räteregierung, des Rates der Volksbeauftragten, hatte die nicht in die staatliche Organisation

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