Sieben Leben. Stefan Kuntze

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Sieben Leben - Stefan Kuntze

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den so viele erträumten, verhindert. Mit ihren aus dem Krieg mitgeführten schweren Waffen hatten die Freikorps leichtes Spiel mit den Angehörigen der am 1. Januar gegründeten Kommunistischen Partei Deutschlands, die die Macht in den Betrieben und damit auch im Staat erobern wollten. Es wurde ein Blutbad, dessen Spuren überall in Deutschland sichtbar wurden.

      Schröder, der politische Freund von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, gehörte zu den Gründern der revolutionären Partei, die den Parlamentarismus ablehnte und über die Herrschaft in den Fabriken die Diktatur des Proletariats und schließlich die klassenlose Gesellschaft errichten wollte.

      Nach den von der SPD durchgesetzten und von der KPD konsequenterweise vehement abgelehnten Reichstagswahlen vom 19. Januar wüteten die Freikorpssoldaten im ganzen Reich bis etwa Mai 1919 und töteten alle, die sie für Kommunisten hielten. Schröder hatte Berlin sofort verlassen, als er erfuhr, dass eine sogenannte Bürgerwehr seine beiden Freunde verhaftet und ins Eden-Hotel verfrachtet hatte. Alle wussten, dass dort der Stab der Garde-Kavallerie-Schützen-Division residierte, der Spartakisten folterte und tötete.

      “Einfach totgeschlagen haben sie sie, die Rosa und den Karl, und dann weggeworfen wie ein Stück Dreck!“

      Viel diskutiert wurde im Hause Kuntze nicht. Erst viel später brachte Karl den Namen Rosa Luxemburg mit seinem Onkel in Verbindung. Er selber konnte sich im Alter nur daran erinnern, dass damals um die Umstände ein großes Geheimnis gemacht worden war, was seine Neugier erst recht geweckt hatte.

      „Karlchen, du musst viel lernen. Wir brauchen gut ausgebildete Menschen, die eine sozialistische Zukunft bauen können. Streng dich an in der Schule!“

      „Mach ich, Onkel Karl. Ich will mit dir die Welt besser machen.“

      Als er abreiste, nahm der Onkel das Geheimnis und den Hauch von großer Geschichte mit sich in die große, ferne Stadt Berlin und Karl widmete sich wieder seinem Leben als Jugendlicher in der Provinz Pommern. Seit seiner Geburt am 5. April 1909 als Sohn des Lokomotivführers Waldemar und seiner zeitlebens kränklichen Frau Elsbeth lebte er in der Kleinstadt Schivelbein.

      Das Städtchen gehörte zu Westpommern, auch Hinterpommern genannt, und ist seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ein Teil von Polen. Ein Grab der Eltern Kuntze und Schröder oder ein sonstiger Platz, an dem Karl ihrer hätte gedenken können, existiert nicht. Eine Reise nach Polen war nach dem Kriegsende und vor den Warschauer Verträgen von 1970 nicht im Bereich seiner Möglichkeiten. So blieb seine Herkunft aus Hinterpommern für die Familie von einem gewissen Geheimnis umwittert.

      Er trug selber dazu bei, dass auch etwas Lächerliches damit verbunden war, wenn er gelegentlich folgende Anekdote erzählte: Bei einem Besuch des Kaisers in Schivelbein war der Lehrer mit den unteren Klassen angetreten, um dem Monarchen ein selber verfasstes Gedicht im Chor vortragen zu lassen.

      „Ein Gruß soll dir aus Vorderpommern

      Und aus dem hintern entgegendonnern!“

      Noch als alter Mann fand er die Geschichte komisch und lachte meist selber, bevor er die Pointe erklärte.

      Ein paar alte Ansichtskarten vermitteln nur einen schwachen Eindruck davon, was man sich unter diesem Ort vorstellen kann. Postkartenbilder mögen zwar wichtige Einblicke geben, die Realität kommt jedoch staubiger und weniger idyllisch daher als es diese glänzenden Reproduktionen glauben machen. Dennoch verschaffen die Fotografien eine kleine Vorstellung, auch wenn alles darauf so herausgeputzt aussieht, dass man es fast nicht glauben mag.

      Verlässt man die Stadt in Richtung Osten, umschließen bewaldete Hügel eine längliche Wasserfläche, deren Verlauf das Urstromtal ahnen lässt, welches diese Landschaft vor Jahrmillionen geformt hat. Eine Allee aus Laubbäumen begleitet das linke Ufer eines Gewässers, das Fünfsee heißt. Es gehört zu einem Landstrich, den man wegen seiner Endmoränenhügel ‚pommersche Schweiz‘ nennt. Im linken Vordergrund des Fotos erkennt man eine Scheune in Fachwerkausführung.

      In der Mitte der Stadt imponiert der mächtige Turm der Marienkirche. Er ist bis in große Höhe so breit angelegt, dass er einer einzigen, riesigen Backsteinfassade mit einem winzigen Deckel von Dach gleicht. Drei Reihen gotischer Fensteröffnungen verleihen dem Bauwerk Würde und Ruhe.

      Ganz in der Nähe der Kirche befand sich der Marktplatz. Man sieht auf der Postkarte mehrere Pferdegespanne, die verloren auf dem von Häusern umschlossenen, menschenleeren und ungepflasterten Platz stehen. An einer barocken Fassade prangt eine schwarze Tafel, auf der man „Kaiser’s“ lesen kann, den Hinweis auf das im Erdgeschoss hinter großen Fenstern befindliche Kolonialwarengeschäft. Auf einem weiteren Foto erkennt man im Hintergrund sogar ein Automobil.

      Der Bahnanschluss, der für die Familie große Bedeutung hatte, stellte das Tor zur Welt dar, das heißt in Richtung Norden zur Ostsee und nach Westen in Richtung Stettin. Der Weg nach Osten war seit 1918 durch den polnischen Korridor unterbrochen. Auf dem Foto sind die Schienen für den Fotografen das Wichtigste. Sie verlieren sich vor der im Hintergrund aufragenden Kirche und passieren eine Reihe von Bahnhofsgebäuden, wie sie Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland tausendfach gebaut worden sind.

      So muss man sich das Städtchen Schivelbein und seine Umgebung, die pommersche Schweiz, zu Beginn des letzten Jahrhunderts vorstellen. Hier begann Karl sein erstes Leben.

      Sein Vater, der als Lokomotivführer im Beamtenstand arbeitete, war zwar ständig unterwegs, kam aber nicht wirklich weiter, da er auf der Strecke zwischen Schivelbein über Polzin nach Dramburg hin und her fuhr. Manchmal wurde er für die Fahrt über Belgard nach Kolberg an der Ostsee eingeteilt. Waldemar liebte seinen Beruf. Mitgliedschaft in der SPD und in der Gewerkschaft waren für ihn selbstverständlich.

      Karl war ein aufgewecktes Kind und die Abschiedsworte des Onkels hatten ihn angestachelt, auch wenn er nicht genau wusste, wie die zu bauende Zukunft genau aussehen sollte. Er durfte nach dem Abschluss der Volksschule auf der örtlichen Landwirtschaftsschule weiter lernen, die den Zugang zu höherer Bildung in Gestalt der mittleren Reife eröffnete. Für Waldemar war Bildung auch für die Kinder der Arbeiter und kleinen Leute ein wichtiges Anliegen, weshalb er gerne zustimmte, als die Lehrer ihm von den guten Leistungen seines Sohnes berichteten. „Er soll einmal etwas Besseres werden als ich“, hat er gedacht.

      Viehzucht und Ackerbau gehörten neben den Grundfächern zum Lehrplan der Landwirtschaftsschule. Schaden konnte das dabei erworbene Wissen im späteren Leben nicht, wie er seinem Sohn erläuterte. Waldemar unterhielt zur Aufbesserung des mageren Gehalts wie viele kleine Beamte einen Garten zur Versorgung der Familie mit Salat und Gemüse. Da konnte es von Vorteil sein, wenn der Sohn sich ein wenig auskannte.

      Von der großen Stadt Berlin, die Schröder als „Metropole“ bezeichnet hatte, blieben dem Neffen Karl nur die Erinnerungen an die Erzählungen des geheimnisvollen Onkels. In der Realität war die Stadt so weit weg, als läge sie auf einem anderen Planeten, aber der Name hatte einen besonderen Klang erhalten.

      Zunächst blieb es aber neben der Arbeit im elterlichen Garten und der ohne Mühe absolvierten Schule bei gelegentlichen Ausflügen mit dem Vater, z.B. zum Angeln an den Beustriner See mit seinen stillen Wäldern oder eben nach Fünfsee. Natürlich fuhr man mit dem Fahrrad dort hin.

      Ob wirklich Fische gefangen wurden, hat Karl nie erzählt. Aber bei Besuchen in dem Hafenstädtchen Kolberg an der Ostsee gab es Heringe und andere Köstlichkeiten zu essen. Jahrzehnte später, in den Sechzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts, konnte man erleben, wie Karl auf einer Reise nach Holland ein Matjesfilet durch die geschnittenen Zwiebeln in einem Pergamentpapier zog, seinen Hals nach hinten bog und den Fisch mit einem seligen Gesichtsausdruck in den genüsslich geöffneten Mund führte.

      Höhepunkt

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