Sieben Leben. Stefan Kuntze

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Sieben Leben - Stefan Kuntze

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auf Einhaltung der Eisenbahnbetriebsordnung und generell der guten Ordnung und Disziplin – aber es gab Ausnahmen. Die Trasse der von ihm bedienten Kleinbahn führte von Schivelbein über Polzin nach Dramburg und wenn in den Sommerferien weniger Fahrgäste zu erwarten waren, durfte sich Karl hinter Polzin auf der dem Bahnsteig abgewandten Seite des Zuges nach vorne zur Lokomotive schleichen. Die Sprossen, die den Zugang zum Führerhaus ermöglichten, waren in großer Höhe angebracht und die Lokomotive stand meistens schon außerhalb des Bahnsteigs. Die Begeisterung und die Hand des Vaters mussten beim Klettern helfen. Für den Rest der Strecke teilte Karl sich mit dem Vater und dem Heizer den engen, lauten und beim Nachfüllen der Brennkammer heißen Fahrerstand. Begeistert ließ er sich Ruß und Wind um die Nase wehen.

      In den Jahren während des 1. Weltkrieges mussten Karl und sein Bruder Heinz regelmäßig in dem Garten mitarbeiten, den die Familie als Wohltat der von der Deutschen Reichsbahn geförderten Bewegung der Eisenbahnerlandwirte nutzen durfte. Als Angehörigem der großen Reichsbahnfamilie stand Waldemar ein solches Stückchen Land zu. Die eigene Gemüseproduktion war für das Überleben der Familie von existenzieller Bedeutung.

      Nach Kriegsende komplettierte eine Wandervogelgruppe das Freizeitangebot in Schivelbein, der Karl sich trotz gewisser Bedenken der Eltern anschließen durfte. Das distanzierte den Kuntze-Sohn von vielen traditionellen Familien, die den Sozis und diesen Naturburschen ohnehin misstrauisch begegneten. Dieses Misstrauen wurde durch die Wander- und Naturromantik der Gruppe verstärkt. Die Natur war für die Landbevölkerung ein eher feindliches Gegenüber, dem man mühsam den eigenen Lebensunterhalt abringen musste. Für Romantik war da wenig Verständnis und insbesondere für Gruppen, die sich zwar viel in der Natur aufhielten, aber ersichtlich dort nicht wirklich sinnvoll arbeiteten.

      Es ist nicht überliefert, welcher der Richtungen und Abspaltungen dieser Jugendbewegung die pommersche Gruppe in Schivelbein angehörte. Sicher haben sie nicht nur das Thema der Alkoholabstinenz (das einen Grund für Spaltungen abgab) oder des gemeinsamen Wanderns von Jungen und Mädchen (das einen weiteren Streitapfel darstellte) diskutiert, sondern vor allem auf den gemeinsamen Ausflügen gesungen.

      Ein in Ost- und Westpreußen etwa zu dieser Zeit entstandenes Lied gehörte zum Repertoire aller Richtungen des Wandervogels, eines, das in verschlüsselter Form das Elend und die Folgen des gerade erst beendeten Krieges besingt: „Zogen einst fünf wilde Schwäne, Schwäne leuchtend weiß und schön.“ Jeder wusste, was gemeint war, wenn es weiter heißt: „Sing, sing, was geschah? Keiner ward mehr geseh‘n“ und Karl kannte diesen Text bis ins hohe Alter mit allen vier Strophen, auch der über die „fünf jungen Burschen“, die kühn in den Kampf zogen und nicht heimkehrten.

      Die Familie Kuntze lebte am Rande Schivelbeins und wenn seine Mutter es wünschte, zog Karl mit ihr über die breite Kolberger Straße, durch das hohe Backsteintor in den Park, der die grüne Oase um das riesige Deutschordensschloss darstellte, das leicht erhöht auf einem mauerumfassten Gelände stand. Mit dem Backsteinturm und der abgerundeten Fassade des Hauptgebäudes wachte es herrschaftlich über die Umgebung. Elsbeth liebte es, von einer kleinen Anhöhe in die weite Ebene des Rega-Tales zu schauen und sie liebte ihren Sohn Karl. Manchmal, wenn sie besser bei Kräften war, setzte sie sich an das Klavier, das die Familie sich leistete, und sang mit ihrer schönen Stimme anspruchsvolle Lieder.

      ‚Thomas der Reimer‘, das von Carl Loewe vertonte Fontane-Gedicht hatte es dem jungen Karl besonders angetan. Das Schicksal dieses Poeten, der der schönen Elfenkönigin für sieben Jahre angehören durfte, drückte etwas von der eigenen Hoffnung auf ein interessantes und schönes Leben aus. Er selber brachte sich neben dem Klavierunterricht in dieser Zeit das Gitarrenspiel bei und von einem Freund der Familie erhielt er ein Akkordeon sowie eine Einführung in die Grundtechnik dieses Instruments.

      Diese seine Heimat musste Karl bereits 1925 verlassen, um weiter zu kommen.

      Ein Landleben

      Als Jugendlicher hasste Karl Gartenarbeit, auch wenn er in seinen in den Achtzigerjahren aufgezeichneten Erinnerungen die Mitarbeit im elterlichen „Anwesen“ etwas idealisiert darstellt. Wenn er ehrlich war, hatte er auch im Alter keine andere Einstellung dazu. Ein etwas verbissener Ernst erfüllte ihn, wenn im Garten Arbeit anstand und dann musste es meist sehr schnell gehen, so als ob er möglichst bald damit fertig sein wollte.

      Waldemar war verständnisvoll und ließ seinem Erstgeborenen genügend Freiheit und freie Zeit, sodass seine Naturerlebnisse sich auch auf die unbearbeitete Erde ausdehnen konnten, wenn er mit Klampfe und Freunden der Wandervogelgruppe die pommersche Schweiz unsicher machte.

      Schwieriger gestalteten sich für ihn die Sommerferien, die er fast in jedem Jahr in Polzin beim Großvater Richard Schröder verbringen musste. Er nennt ihn in einer Beschreibung seiner Familie, die er 1985 angefertigt hat, „absoluter Patriarch“ sowohl zu Hause als auch in den Klassen, die er als Lehrer unterrichtete, beeilt sich aber, hinzuzufügen, dass er hohes Ansehen genoss. Die Frage drängt sich auf, für welches Umfeld diese Aussage gilt. An anderer Stelle der Aufzeichnungen ist von einer Loge die Rede, über deren Tätigkeit und die Stellung des Großvaters darin jegliche Angabe fehlt. Darüber habe die Familie nichts gewusst.

      Offenbar wurden auch die Enkel dieses dem 19. Jahrhundert entstammenden Pädagogen in Lehrstunden einbezogen, denn bei Spaziergängen gab es nicht etwa Abenteuerspiele oder sportliche Anstrengungen, sondern Pflanzenkunde. Zwar schreibt Karl: „Und doch haben wir auch viel Schönes erlebt. Ich erinnere mich an manchen Spaziergang mit ihm und meinem Vater, wenn er mir die Pflanzen und Sträucher erklärte, die wir sahen.“ Wirklich schön und interessant fand er das allerdings nicht. Das „und doch“ zu Beginn der Aufzeichnung ist verräterisch!

      Die allfällige Gartenarbeit war bei den Großeltern von anderem Kaliber als in Schivelbein. Aus bäuerlicher Familie kommend hatte sich Opa Schröder einen wirklich großen Garten angelegt, der nach strenger Weisung mit Händen, Hacken und Mist in Schuss zu halten war. Es war eine schwierige Zeit, als Karl während einer längeren Krankheitsphase seiner Mutter ein halbes Jahr bei den Großeltern verbringen musste.

      Die regelmäßigen Aufenthalte in Bad Polzin während der Sommerferien waren dennoch Höhepunkte in seinem Leben, weil die drei Töchter von Onkel Schröder aus Berlin in dieser Zeit ebenfalls anwesend waren. Er hat es nie verraten und diplomatisch davon geschrieben, er und sein Bruder Heinz seien abwechselnd jeweils in eine der drei verliebt gewesen. Aber es war nicht zu übersehen: Inge, die älteste der Mädchen, war seine Favoritin. Er hätte sie gerne bei einem der nach dem Ende der Gartenarbeit möglichen Ausflüge an einen See in der Umgebung berührt oder geküsst. Beim vorsichtigen Einsteigen ins Wasser oder noch besser beim Auftauchen und Verlassen des Sees hat er sie genau betrachtet. Die Mädchen brachten den Hauch der verruchten Großstadt Berlin mit, auch wenn sie keine Bikinis trugen, die es damals nicht gab und die hier absolut verpönt gewesen wären.

      Zum Patriarchen Schröder passte die Mitgliedschaft im Turnverein, der jährlich einen großen Ausflug in die pommersche Schweiz veranstaltete. Für diesen Großvater war es – ganz im Sinne der Zeit seines Erwachsenenwerdens – selbstverständlich gewesen, dass sein Sohn Karl studieren durfte, während die ähnlich intelligenten zwei Töchter ja „ohnehin heiraten“, oder wie es damals hieß: „Mädchen brauchen keine höhere Schulbildung.“

      Diese höhere Bildung hatte er seinem Sohn dagegen ermöglicht und auch der Enkel Karl sollte die Chance bekommen. Ein guter Schulabschluss, der Wunsch nach weiterer Bildung und der Lockruf Berlins brachten den 16-jährigen 1925 in die Reichshauptstadt. So viel an Reform im Bildungswesen hatte inzwischen in dieser ersten deutschen, der Weimarer Republik stattgefunden, dass begabten jungen Menschen Schulen und Internate zur Verfügung standen, in denen sie ohne größere finanzielle Mittel der Familie zum Abitur gelangen konnten. Hierzu bestimmte der „Schulartikel“ der Weimarer Verfassung (Artikel 146): „Für den Zugang

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