Sieben Leben. Stefan Kuntze

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Sieben Leben - Stefan Kuntze

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Karl nur wenige Jahre später geboren worden, hätte sein Leben völlig anders ausgesehen, denn bereits 1927 verwandelte die Stadt Schivelbein die Landwirtschaftsschule in Vollzug dieser Verfassungsbestimmung in ein Realgymnasium, auf dem er mit Sicherheit gelandet wäre. Dann hätten die entscheidenden Begegnungen mit Karl Schröder, Alexander Schwab, Bernhard Reichenbach und den anderen Männern der Sozialwissenschaftlichen Vereinigung in Berlin nicht stattgefunden. Auch der Kreis der „Roten Kämpfer“ wäre ihm unbekannt geblieben, einer kleinen, linksradikalen Splittergruppe, die sein Leben durcheinander wirbeln sollte.

      Der für den weiteren Weg notwendige Schritt, der Umzug nach Berlin, war zwar auch von Karl selber gewollt, aber ganz freiwillig kann man ihn nicht nennen. Er fühlte sich verpflichtet, seine Begabung weiter zu entwickeln. Schlimm war, dass er dafür nicht nur seine geliebte Heimat verlassen musste, sondern auch die kranke Mutter, die ihn oft brauchte. Tief drinnen plagte ihn sein Gewissen und wenn er ehrlich war, hatte er auch etwas Manschetten vor der großen Stadt.

      „Pass gut auf dich auf, mein Junge!“ Elsbeth ließ sich nicht anmerken, wie sehr sie dieser Abschied schmerzte. „Onkel Karl wird dir helfen.“

      „Ich komme ja in den Schulferien wieder, Mutti, du musst dir keine Sorgen machen.“

      Im Zug wurde Karl nachdenklich. Würde er der Erwartung des Onkels gerecht werden? Seine Erinnerungen an den Januar 1919 waren zwar intensiv, aber was genau seine Aufgabe sein sollte, war ihm nicht ganz klar. Wichtig war – so viel stand fest – ein guter Schulabschluss und wenn irgend möglich ein Studium. Das Weitere würde sich finden. Außerdem war er gespannt, wie ein Metropole aussah und nicht zuletzt freute er sich auf Inge.

      Erste Eindrücke

      Waldemar Kuntze hätte nicht gewusst, wie er eine weitere Ausbildung seines Ältesten finanzieren sollte und vor allem wo diese stattfinden könnte. Eine weiterführende Schule gab es 1925 in Schivelbein nicht. Er war deshalb dankbar, dass der Schwager Karl Schröder ihn auf die Möglichkeiten hinwies, die in dieser reformfreudigen Phase der Republik für begabte Söhne und Töchter kleiner Beamter und für Kriegswaisen zur Verfügung standen.

      In den mit allem Prunk des Kaiserreichs errichteten, turmgeschmückten Baulichkeiten in Berlin-Lichterfelde, in denen preußische Kadetten seit der Reichsgründung zur Vorbereitung auf das Kriegshandwerk und auf den Eintritt in die Offizierslaufbahn gebüffelt hatten, befand sich seit 1920 die Stabila (staatliche Bildungsanstalt), die nach anfänglichen Schwierigkeiten mit den verbliebenen Kadettenschülern eine Reformpädagogik versuchte. Hier sollte Karl, der begabte Junge aus Pommern, mit moderner Pädagogik zum Abitur geführt werden, um ein gebildeter Mitbürger des demokratischen Deutschland zu werden. Später, in einem anderen Deutschland, zog hier die Leibstandarte Adolf Hitler ein.

      Karl bestand die Aufnahmeprüfung und durfte auf dem Bildungsweg weiter marschieren. Im Abschiedsgruß des wie viele Menschen in Pommern eher maulfaulen Vaters „Mach’s gut, mein Junge!“ schwang Stolz über diesen Aufstieg seines Ältesten mit.

      „Mein Bruder wird dir helfen, wenn du nicht weiter weißt“, hatte Elsbeth ihm mit auf den Weg gegeben.

      Karls Gefühle beim Abschied von Schivelbein waren trotz Heimweh und schlechtem Gewissen mit einer Spur Erleichterung vermischt. Im Alter von sechzehn Jahren hat man auch andere Wünsche, als die kränkelnde Mutter durch den Stadtpark zu führen und ihr immer, wenn sie es verlangte, einen mitgeschleppten Schemel aufzustellen. Außerdem lebte in der Reichshauptstadt der Onkel mit seiner Aura aus Geheimnis und Abenteuer und der Tochter Inge.

      Der erste Besuch bei Familie Schröder bot Gelegenheit, alle drei Töchter, besonders die älteste, wiederzusehen, obwohl oder vielleicht gerade weil sie ihn immer hatte abblitzen lassen. Vielleicht könnte sich etwas ergeben, da man sich jetzt öfters sehen würde. Vor allem war es aber der charismatische Onkel, der von Anfang an nachhaltigen Eindruck auf Karl machen sollte.

      „Karlchen, das ist aber schön, dass du jetzt auch in der Metropole Berlin bist.“

      Von zu Hause und der Familie wollte er nur das Allernötigste hören und war auch nicht richtig bei der Sache, als sein Neffe von den Eltern und von seinem Bruder erzählte. Die drei Mädchen hatten unter Hinweis auf ihre Hausarbeitspflichten das Arbeitszimmer verlassen. Vor allem die jüngste, die Ulla, war darüber sehr traurig. Eine schwärmerische Liebe zu dem sieben Jahre älteren Vetter erfüllte sie seit der Kindheit und sie fand es ungerecht, dass nur der Vater mit ihm sprechen durfte.

      Auf seinem voll beladenen Schreibtisch hatte Karl Schröder einige handbeschriebene Blätter vor sich liegen und fing sofort an, als in der stockenden Erzählung seines Neffen eine Pause eintrat.

      „Die kommunistische Partei hat ihre Seele verkauft und sich zum Knecht von Stalin und seinen Bolschewisten gemacht.“

      Einige Sätze fielen Karl ein, die er in Polzin gehört hatte, als die Familie sich zu Weihnachten bei den Großeltern versammelt hatte.

      „Aber hast du nicht einmal gesagt, dass die SPD euch hat zusammenschießen lassen?“

      „Ja, schon, das war 1919. Aber jetzt sind wir im Jahr 1926 und müssen die Idee des Sozialismus retten … auch in der SPD. Außerdem kommt die wirkliche Gefahr heute aus ganz anderer Richtung.“

      „Meinst du von den Nationalsozialisten?“

      „Nein, die sind doch weg vom Fenster. Bei der letzten Wahl haben sie die Quittung für ihre chaotischen Streitereien bekommen. Der Hitler ist zwar skandalöser Weise schon wieder aus der Haft entlassen, aber jetzt ist er wohl eher zum Schriftsteller geworden. Nein, ich spreche von der Kommunistischen Partei Deutschlands, der KPD.“

      „Das verstehe ich nicht. Du warst doch bei der Gründung dabei.“

      „Das ist eine Ewigkeit her und ich sage dir, mein Junge, was die in Russland jetzt veranstalten, das passt nicht auf unsere deutschen Verhältnisse. Dieser georgische Diktator, der Genosse Generalsekretär, hat erreicht, dass alle Kommunisten auf der Welt nur das tun dürfen, was ihm und der Sowjetunion nützt.“

      „Du meinst, auch die KPD hier bei uns?“

      „Ja, die, die sich heute Vereinigte KPD nennt. Mit Lenin konnte man wenigstens noch reden, auch wenn er und seine Bolschewiki den eigenen deutschen Weg nicht anerkannt haben, aber was jetzt läuft, spottet den Prinzipien des historischen Materialismus. Die Parteikommunisten sind dabei, sich dem sowjetischen Diktat zu unterwerfen, stell dir das vor! Als hätten sie Karl Marx und den historischen Materialismus nicht gelesen oder wieder vergessen.“

      Eine Vorstellung vom sowjetischen Diktat fiel dem jungen und politisch unerfahrenen Karl schwer, aber da war es wieder, das Wort, das sein Leben in eine Richtung bringen sollte, die er sich nicht hatte vorstellen können: der historische Materialismus!

      „Jetzt gibt es das richtige Programm bei der Kommunistischen Arbeiter Internationale (KAI), die am Räteprinzip festhält.“

      „Aha.“ Von denen hatte er noch nie etwas gehört. Er war sicher, dass sein Onkel es ihm schon erklären würde.

      Nach der von den Bolschewisten angeordneten und durchgesetzten Änderung der Parteilinie der KPD weg von dem Ziel einer Machtergreifung durch Arbeiterräte und hin zu einer Einheitsfrontpolitik im Oktober 1919 war Karl Schröder wegen „linker Positionen“ aus der KPD, zu deren Gründern er gehört hatte, ausgeschlossen worden. Dieser von außen verordnete Schwenk von der Rätepolitik zur Mitwirkung an dem als Kampfinstrument der Bourgeoisie angesehenen Parlamentarismus

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