Marthe. Tanja Flügel

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Marthe - Tanja Flügel

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zu sammeln, denn sobald die Sonne untergangen war, wurden Hunger und Kälte unerträglich. Mit knurrenden Mägen und vor Kälte schlotternde Gliedern hockten sich die Familien enganeinander gedrängt um kümmerliche Feuerchen und beäugten misstrauisch und neidisch ihre ehemaligen Nachbarn und Freunde. Die Not war groß, von den Wintervorräten war nichts geblieben.

      Auch wenn wir dank der Weisheit meines Großvaters einige Vorräte hatten retten können, ging unser Sack Mehl doch schnell zur Neige und unsere Decken schützen nur unzulänglich vor der grimmigen Kälte des hereinbrechenden Novembers. Unsere paar geretteten Hühner legten im Winter keine Eier und wurden mit jedem Tag magerer. Angesichts hungernder Menschen wäre es Verschwendung gewesen, sie leben zu lassen.

      Der Amtsvogt, der am Tag des Brandes in Lauenstein gewesen war und erst am nächsten Morgen wieder in Wallensen eintraf, wendete sofort sein Pferd, um sich auf dem Amt Lauenstein dafür einzusetzen, dass uns und ihm geholfen würde.

      Doch wenn Gott auch alles sieht auf Erden, verließen sich seine Stellvertreter lieber auf die eigenen Augen. Und so kam zunächst und ohne Eile eine Abordnung würdiger alter Herren aus dem Amt Lauenstein, um zu prüfen, ob es uns auch wirklich schlecht genug ginge.

      Sie fanden alles zu ihrer Zufriedenheit elend und waren bereit, für uns ein gutes Wort bei Herzog Friedrich-Ulrich einzulegen. Schon um ihre Einkünfte zu retten, denn der zehnte Teil all unseres Wohlstandes, unsere Ernten und Vorräte gehörte von Rechts wegen ihnen und davon war nicht viel übriggeblieben. Nach dieser Besichtigung verschwanden sie. Zurück in die vor dem eisigen Wind schützenden Mauern ihrer Lauensteiner Burg, froh den hungrigen und frierenden Menschen in Wallensen den Rücken zukehren zu können.

      Wir hofften das Beste und fürchteten das Schlimmste. Beim letzten Brandunglück hatte Herzog Erich zwar großzügig, aber ungehindert von jeglicher Ortskenntnis, 100 Eichenbalken und 250 Eichensparren im Solling zuweisen lassen, mehrere Tagesreisen von Wallensen entfernt und damit völlig nutzlos. Erst nach weiteren Bittbriefen und vielen kalten Wintern bekamen die Wallenser damals schließlich Holz aus dem umliegenden Forst.

      Holz aus den eigenen kleinen Waldstücken der Bauern war kaum zu gebrauchen, durch die vielen Brände und Nöte der letzten Jahrzehnte waren die großen Bäume so gut wie alle gefällt worden. Übrig waren nur geschmeidige junge Stämme, in die man, wie in Kinder, große Hoffnungen setzten konnte, die zunächst aber noch der Pflege und Rücksicht bedurften.

      Während wir warteten, suchten und bauten wir, was eben ging. Der Schmied Senkfried hatte seine Werkzeuge unter der Asche wiedergefunden und die Holzgriffe notdürftig erneuert. Die anderen Männer untersuchten jeden schwarzen Holzbalken auf ein brauchbares Innenleben, hauten und sägten die helleren Teile heraus und zeigten sie anschließend vor wie einen Schatz.

      Großvaters Schatz, das Mühlrad hatte den Brand, im Saalewasser liegend, fast unbeschadet überstanden. Und hätte die Winterzeit nicht alles Wasser zu Eis erstarren lassen, hätte es schon wieder wertvolle Dienste leisten können. Denn die Einwohner von Hakenrode, die unserer Kirchengemeinde angehörten, beteten nicht nur mit und für uns. Nein, sie halfen auch so gut sie konnten mit ein wenig Getreide, getrockneten Früchten und etwas Milch für die Kinder, die sie sich vom eigenen Mund abgespart hatten. Sie hatten es nicht vergessen, dass ihre Vorfahren, ihre Eltern und Großeltern noch bis vor kurzem immer wieder Schutz in unseren Stadtmauern gefunden hatten, wenn die Spiegelberger Herren und andere mit ihnen spielten.

      Trotz der Unterstützung durch die Hakenroder läutete die Bürgerglocke oft in den nächsten Wochen. Auch wenn der Tod eines Kindes gleich nach der Geburt nichts Ungewöhnliches war, machte die Not daraus eine schlimme Gewohnheit. Keiner der sechs Säuglinge, die in den zwei Monaten nach dem Brand geboren wurden, überlebte die ersten Stunden. Zu hungrig waren die werdenden Mütter gewesen, zu schwer hatten sie gearbeitet und zwei von ihnen fehlte die Kraft, nach der Geburt wieder aufzustehen, und so läutete die Glocke für Mutter und Kind gleichzeitig.

      Auch für viele der Alten versammelte sich die Gemeinde zur letzten Feier. Die Base Klingbeil hatte sich von ihrer Verzweiflung nicht erholt, Hunger und Kälte hatten ein Übriges getan. Am Tag des heiligen Nikolaus standen wir vor ihrem mühsam in die gefrorene Erde gehacktem Grab, in das sie, nur in ein spärliches Tuch gewickelt herabgelassen wurde. Das Holz war zu kostbar für Särge in diesen Zeiten.

      Ich weinte und weinte. Vor Kummer, weil sie meine liebste Verwandte gewesen war, weinte vor Hunger und weil meine Eltern immer weniger sprachen und ich in ihren Augen nur Hoffnungslosigkeit sah. Selbst Hans, der bisher trotz aller Nöte immer noch Kraft gehabt hatte mich zu ärgern, schlich sich nur noch stumm und frierend vom Kirchhof und arbeitete weiter. Um sich für einen stillen Moment nur der Trauer zu ergeben, war es zu kalt.

      Weihnachtswunder

      Als es Weihnachten wurde, geschahen einige Wunder, die sich auf leisen Sohlen herangeschlichen hatten, um den Geburtstag des Herrn besonders prachtvoll zu gestalten.

      Der Magister Heisius hatte mit großem Nachdruck in den letzten Wochen dafür gesorgt, dass das kümmerliche und erschöpfte Häufchen Wallenser das Beten nicht vergaß. Jeden Morgen hatte die Marienglocke uns in die Kirche gerufen, unser Gebet überwacht und uns einen tiefen Atemzug gegönnt, bevor sie uns wieder an unsere Arbeit schickte. Am Morgen des 24. Dezember jedoch blieb die Glocke stumm und die Kirchentür verschlossen. Der Magister Heisius stand davor.

      „Geht arbeiten!“, sagte er nur. „Ihr werdet hören, wenn es soweit ist.“

      Keiner wagte zu widersprechen. Unsicher schlichen alle zurück zu ihren Holzbalken und Äxten, zum Steine sammeln und Reisig klauben.

      Es wurde Mittag in Wallensen, für uns normalerweise ohne große Bedeutung, denn zu essen gab es nichts, heute aber von ängstlicher Erwartung begleitet. Nichts passierte, die Kirchentür blieb geschlossen.

      Allmählich brach die Dämmerung herein und das Arbeiten wurde schwieriger. Wir sammelten unsere Werkzeuge, klopften so gut es ging unsere Kleider aus und wischten mit einem Tuch über unsere immer rußigen Gesichter.

      Gerade als meine Mutter der hungrig weinenden Louise ihren Daumen in den Mund gesteckt hatte, um sie zu beruhigen, begann es zu läuten.

      Eine nach der anderen setzten sich alle vier Glocken in Bewegung. In das leise Bim-Bim der Beichtglocke fiel das Lachen der Marienglocke ein, die tiefe Stimme der Bürgerglocke trug die anderen noch höher und schließlich vergaß sogar die Uhrglocke ihr stündliches Pflichtbewusstsein und ließ sich anstecken. Ich hatte das Gefühl, glänzende Silber- und Bronzetöne in den dämmrigen Himmel schweben zu sehen, in feinen Wirbeln und kräftigen Strahlen.

      Zum ersten Mal seit dem Brand läuteten die Glocken wieder zusammen und ihr mächtiges Lied begleitete uns in die Kirche. Ich ging zwischen den Erwachsenen und weinte. Hunger und Kummer hatten meinen Körper schwankend gemacht, der überirdische Klang holte meine Seele ab und ich wäre bereit gewesen zu sterben und mit ihm in den Himmel zu ziehen.

      Ich war so schwach, dass ich nicht begriff was ich sah, als wir die Kirche betraten. Hinter der Kirchentür wurde es dunkler und auch wieder nicht. Es wurde nicht wärmer als draußen, aber irgendwie doch. Es roch nach Feuchtigkeit, verwahrlosten Menschen und schmutziger Kleidung und nach etwas ganz anderem, ungewohntem.

      Die Menschen hinter uns drängten sich durch die Seitentür und schoben uns in Richtung Altar. Dort brannten zwei große Kerzen aus gelbem Bienenwachs. Ihr Licht erschien unwirklich. Zwischen ihnen hing ein neues Kreuz und erstrahlte in warmen Farben. Zwei weitere Kerzen steckten in den Wandleuchtern zwischen den Fenstern und erhellten den Raum.

      Wochenlang war für uns die Sonne einzige Lichtquelle gewesen und die hereinbrechende Dunkelheit

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