Indische Reisen. Ludwig Witzani

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Indische Reisen - Ludwig Witzani

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und zweckentfremdet. Er war nicht nur ein Umschlagplatz für Millionen Reisende, die Heimat Hunderttausender von Ratten, sondern auch ein Ort des Überlebens für die Ärmsten der Armen, ein leidlich trockener Lagerplatz während des Monsuns, ein windgeschützter Winkel in der kalten Jahreszeit, aber immer auch so überfüllt, dass Hunderte Familien unter dünnen Decken und Zellophanplanen vor den Eingängen und den Hallen des Bahnhofs schlafen mussten. Nach Einbruch der Dunkelheit stimulierte der Anblick des Bahnhofsbezirkes ohne jede Straßenbeleuchtung die bedrückende Vision vom Ende des städtischen Lebens nach dem Verschwinden der Elektrizität und der Wiederkehr des Lagerfeuers in der Millionenstadt.

       Die Basarstraße Chandni Chowk war fast über ihre ganze Länge durch einen meterhohen Eisenzaun in zwei Fahrbahnhälften geteilt, damit der kaum noch entwirrbare Strom von Fahrrad- und Motorrikschas, Kamelen, Kühen, Autos und Fußgängern wenigstens die Richtung beibehielt. Die Fußgänger, die auf beiden Seiten der Straßen dieser Richtung folgten, liefen durch überfüllte Basar-Arkaden, in deren Auslagen sich Tradition und Moderne mischten: kostbare Seidensaris und Massentextilien waren ebenso zu finden wie handgearbeiteter Silberschmuck und Glasketten, Gewürze und Konserven, religiöse Devotionalien und Plastikeimer - viele davon paradoxerweise aus China importiert.

       Äußerlich fraglos das schönste Gotteshaus auf der Chandni Chowk war die Sonehri Masjid, die "Goldene Moschee", deren zwiebelartige Kuppeln am Ende des 18. Jahrhunderts auf einem noch älteren Bau errichtet worden waren. Jeder, der von der chaotischen Straße in die Stille der Gebetsräume trat, spürte, dass die Moschee in Indien ein gesegneter Platz war, und sei es auch nur als Membrane der Lautlosigkeit innerhalb eines kakofonischen Normalzustandes. Im Unterschied zur großen Freitagsmoschee herrschte eine Stimmung weltentrückter Andacht: Männer in Straßenkleidung saßen in den Ecken und blätterten im Koran, manche lagen lang ausgestreckt auf dicken Teppichen und schliefen. Man hat den Islam als die Religion des Stolzes bezeichnet, was den Sachverhalt ganz gut trifft, denn die Selbstgewissheit der Menschen in den Moscheen war ebenso beeindruckend wie die Intransigenz gegenüber anderen Religionen erschreckend.

      Die Erinnerung an solche Intoleranz war untrennbar verbunden mit dem Namen des letzten Großmoguls Aurangazeb (1658-1707), der nach der Absetzung seines Vaters Shahjahan eine strikt islamisch begründete Neuorientierung der gesamten Reichspolitik vollzog. Das Gerichts- und Wirtschaftsleben, vor allem aber die Steuergesetzgebung, wurden zum Nachteil der hinduistischen Bevölkerungsmehrheit so stark verändert, dass es zu Aufständen in allen Teilen Indiens kam, denen der Mogulstaat langfristig erliegen sollte. Neben den Rajputenfürsten und der zentralindischen Marathen-Konföderation erhoben sich auch die Sikhs gegen die fundamentalistische Religionspolitik des neuen Kaisers. Auf der Grundlage der Lehren ihrer zehn großen Gurus hatten die Sikhs im 16. und 17. Jahrhundert die Grundzüge einer Theologie entwickelt, die Wesenselemente des Hinduismus und des Islam auf eine durchaus originelle Weise miteinander verband. Doch Aurangazeb hatte mit irgendwelchen Religionssynthesen nicht viel im Sinn. Als Teg Bahadur, der neunte der zehn Gurus, sich im Angesicht Aurangazebs weigerte, seinen Glauben zu widerrufen, ließ ihn der Großmogul zusammen mit seiner Gefolgschaft im Jahre 1675 kurzerhand wie einen Verbrecher unter einem Baum an der Chandni Chowk enthaupten.

      Genau an diesem Ort, heute nur wenige Meter von der Sonehri Masjid entfernt, erbauten die Sikhs später das neben dem Goldenen Tempel von Amritsar bedeutendste Heiligtum ihrer Religion, den Sikhtempel Sis Ganj Gudwara, einen Ort intensiver Gläubigkeit, der den Besucher aus den laizistischen Gesellschaften des Westens mit der ihm eigenen vibrierenden Inbrunst fast erschlägt. Zurückgesetzt vom Trubel des Chandni Chowk und oberhalb des Straßenniveaus befand sich in einer mit glitzernden Leuchten geschmückten und mit dicken grünen Teppichen ausgelegten Halle der große altarartige Baldachin, unter dem die Gläubigen die Gebeine des Märtyrer-Gurus verehrten, um sich gleich anschließend dem aufgeschlagenen heiligen Buch hinter Panzerglas zuzuwenden. Scheu und ehrerbietig umkreisten die Sikhs den Baldachin, während die monotone Liturgie von Raga-Gesängen die Halle erfüllte. Stundenlang saßen sie vor dem Märtyrersarg und dem heiligen Buch auf dem Teppich und blätterten meditierend über hektografierten Abzügen aus dem Gur Granth Sahib. Es war vornehmlich der hochgewachsene nordwestindische Menschenschlag, der diesen Tempel frequentierte, würdige Männer, die ihre mächtigen Bärte und Turbane trugen wie die Merkmale einer besonderen Erwählung und deren Augen voller Trauer auf den Baldachin blickten, als schmerze sie die Hinrichtung Teg Bahadurs jeden Tag aufs Neue.

      Dass der Großmogul Aurangazeb den vorletzten Guru der Sikhs wie einen Verbrecher hatte hinrichten lassen, wirkte bis heute nach. Wo immer es nach dem Abzug der Briten bei der Aufteilung des indischen Subkontinents zwischen Indien und Pakistan zu Kämpfen gekommen war, hatte man die Sikhs zuverlässig auf Seiten der Hindus gefunden. Das war allerdings auch schon eine Weile her, und zur vollständigen Wahrheit gehörte, dass sich inzwischen auch das Verhältnis der Sikhs zur hinduistischen Glaubensmehrheit erheblich verschlechtert hatte. Religiöse und politische Streitigkeiten zwischen der Zentralregierung und separatistischen Sikhs im nordindischen Punjab hatten im Jahre 1984 zur Erstürmung des Goldenen Tempels von Amritsar durch indischer Truppen geführt, ein ungeheures Sakrileg, das sich in den Augen der Sikhs als genauso ruchlos darstellte wie die Hinrichtung Teg Bahadurs durch den Großmogul Aurangazeb. Die unmittelbare Folge dieser Militäraktion war die Ermordung der indischen Ministerpräsidentin Indira Gandhi durch zwei ihrer Sikh- Leibwächter gewesen, ein Attentat, das ganz Indien erschütterte. Noch in der Nacht des Attentats hatte sich der Hindumob vor dem Sis-Ganj-Gudwara-Tempel zusammengerottet, um das Heiligtum der Sikhs niederzubrennen - gehindert allein von den Soldaten der gleichen indischen Armee, deren Aktionen in Amritsar die Krise erst zum Kochen gebracht hatten.

      Wurde man im Heiligtum der Sikhs schier erschlagen von religiöser Energie und geschichtlichen Assoziationen, herrschte im wieder nur wenige Meter entfernten hinduistischen Gauri-Shankar-Tempel eine gänzlich andere Atmosphäre. Entweder hatten die dürftigen Lebensumstände der Menschen ihr Bedürfnis nach Schönheit derart beeinträchtigt, dass sie die rostigen Gitter, die halb fertigen Mauern, den hässlichen Wassertank und die funktionslos herumstehenden Eisenträger im Tempelhof kaum noch wahrnahmen, oder ihr Glaube war tatsächlich so vergeistigt, dass sie der erhebenden Kulisse nicht bedurften. Vor dem achthundert Jahre alten steinernen Lingam, dem Phallussymbol des ekstatischen Gottes Shiva, lag ein abgemagerter Inder mit einem schrecklichen Hautkarzinom lang ausgestreckt auf dem Boden. Diese Szene erklärte mehr als alle Theorie die Überlegenheit der Religion über die Wissenschaft: der Arzt prophezeite dem Kranken den Tod und die Gnade Shiva eine bessere Wiedergeburt.

      Im bereits erwähnten Jainatempel Digambara Lal Mandir mit seinem Tierhospital endete der Rundgang über die Chandni Chowk. Verbeugten sich die Moslems in der Goldenen Moschee vor der Gebetsnische, die gen Mekka wies, beteten die Sikhs im Sis Ganj Gudwara vor dem Grab des neunten Gurus, verehrten die Hindus im Gauri-Shankar-Tempel ein achthundert Jahre altes steinernes Phallussymbol, so verneigten sich die Jainas in ihren Tempeln vor den immer gleichen Abbildungen der vierundzwanzig Tirthankaras, die als Wegbereiter der Erlösung die allindische Lehre von den Wiedergeburten, vom Leben als Tal des Leidens und der Askese predigten. Vom Hinduisten unterscheiden sich die Jainas wie die Buddhisten in der Ablehnung des Kastensystems, von allen anderen Religionen trennt die Jainas eine unerhörte Hochachtung des Lebens in jedweder Gestalt. Der fromme Jaina duldet keinerlei Leder in Haus und Tempel, entstammen diese Stoffe doch den Körpern getöteter Tiere. Er trägt einen Mundschutz, damit er nicht aus Versehen ein Tier einatmet, er versagt sich den Tee nach Einbruch der Dunkelheit, weil ein Insekt ins heiße Wasser fallen könnte, und er isst nur Gemüse, das über der Erde wächst, weil das Herausreißen von Gemüsegewächsen samt Wurzeln möglicherweise Würmer und Mikroben in Gefahr bringen könnte.

      Jeder Vegetarier mochte das super finden, aber nach meiner Reise durch die indische Religionsgeschichte verlangte mein Magen nach Herzhaftem, und so marschierte ich zum Roten Fort, vor dessen Eingang es das beste Chicken Curry von Delhi geben sollte. Niemand wusste natürlich, wie viele der Hühner, die dem Massaker im Chitli Basar entkommen und von den Jainas wieder hochgepäppelt worden waren, anschließend wieder eingefangen

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