Indische Reisen. Ludwig Witzani

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Indische Reisen - Ludwig Witzani

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Schuhmacher waren, interessiert ihn nicht, und er hatte sie schon seit Jahren nicht mehr gesehen. Seitdem er die Schule geschmissen hatte, lebte und arbeitete er im Touristenviertel Taj Ganj in unmittelbarer Nachbarschaft des Taj Mahal. Seit einem halben Jahr war er die rechte Hand vom „Boss“, dem Eigentümer des Kara Guesthouses, in dem sich die Individualtouristen das ganze Jahr über die Klinke in die Hand gaben. Hier war Rajiv goldrichtig, denn wo sich viele Touristen aufhielten, fiel außer der Reihe immer etwas ab - eine Provision hier, eine Dienstleistung dort, wahrscheinlich auch der eine oder andere kleinere Drogendeal, wer wollte das so genau wissen?

      Ich saß auf der Dachterrasse des Kara Guesthouses und frühstückte. Toast mit Marmelade, dazu zwei Spiegeleier und Kaffee. Was hatte dieses Essen mit Indien zu tun? Nichts, aber Taj Ganj war auch nur in einem sehr eingeschränkten Sinne Indien – es war vielmehr eine der zahlreichen Filialen des internationalen Backpackertourismus, in denen der Umgangston, die Musik, das Essen und der Dresscode um einen diffus definierten Mittelwert pendelten, der sich am besten mit zwei Worten beschreiben ließ: easy and cheap. In diesem Umfeld hatte sich Rajiv nicht nur von seiner Herkunft sondern auch von der indischen Küche emanzipiert. Wie die Gäste aß er alles und glaubt an nichts. Vishnu und Shiva hielt Rajiv für Hokuspokus, aber auch mit Jesus, Buddha und Allah konnte er nichts anfangen. Er verehrte stattdessen seine Vespa, die er auf eine nicht ganz saubere Weise finanziert hatte. Denn der schöne Rajiv war der Liebling der allein reisenden jungen Frauen, die das Kara Guesthouse ansteuerten wie die Tauben auf Wanderschaft, und eine unsterblich in ihn verliebte Kanadierin hatte ihm das Geld für ein Flugticket nach Toronto geschickt. Mit diesen kanadischen Dollars war die Finanzierung einer gebrauchten Vespa kein Problem mehr gewesen. Der Flug nach Kanada musste halt warten.

      Ich bestellte noch einen Kaffee und blickte über die Häuserdächer von Taj Ganj. Nur der Himmel wusste, wie es möglich gewesen war, dass in der besten Lage der weltberühmten Stadt Agra dieses Billighotelviertel hatte entstehen können. Die Straßen von Taj Ganj waren staubig und eng, die Märkte ärmlich, die Rikschastände überfüllt, aber das Taj Mahal lag buchstäblich vor der Haustüre. Allein das zählte. Beim Morgenkaffee auf der Terrasse einen Blick auf die Umrisse dieses Weltwunders werfen zu können, war für den normalen Individualtouristen einfach ein unschlagbarer Kracher. Ganz konnte man das Gebäude zwar nicht sehen, dafür war das Eingangsportal zu hoch, doch ein Teil der Kuppel und ein Minarett waren gut zu erkennen.

      Alle Tische auf der Terrasse waren besetzt. Meistens saßen Paare zusammen, aber auch allein reisende Frau waren anwesend - zwei Australierinnen, eine Dänin und eine hübsche Schweizerin, die sich eine Zigarette nach der nächsten ansteckte. Doch ganz gleich wie sie aussahen oder was sie machten – alle wurden vom schönen Rajiv mit Charme und Aufmerksamkeit bedient. Die Damen dankten es ihm mit reichlich Trinkgeld, denn so blendend weiße Zähne, wie sie Rajiv bei seinem Lächeln zeigte, hatten sie lange nicht mehr gesehen. Inzwischen reichte Rajivs Englisch sogar für den einfachen Basisflirt, den Rest erledigte sein gutes Aussehen. Der Boss hatte nichts dagegen, solange es dem Geschäft nicht schadete.

      Und Guesthäuser in Taj Ganj waren tatsächlich ein gutes Geschäft. Die Kundschaft erschien zuverlässig über das ganze Jahr hinweg, war bedürfnislos und dankbar, wenn die Dusche lief und das Bett nicht zusammenbrach. Es war ein juveniler Querschnitt aus den westlichen Ländern, der allmorgendlich auf den Dachterrassen von Taj Ganj Müsli, Pancake oder Sunny Side Eggs bestellte - angereichert neuerdings mit immer mehr Ostasiaten, die auf der Grundlage ihrer steigenden Kaufkraft nun auch Südasien erkundeten. Mr. „Not for me“, den ich zum ersten Mal in Delhi getroffen hatte, war ebenso da wie Pierre, der nun schon seit Jahren kreuz und quer durch Indien reiste und sich in jeder neuen Stadt erst einmal einen Joint gönnte, um sich zu akklimatisieren. Irgendwann einmal kommt jeder nach Agra, sagen die Wirte von Taj Ganj, denn die Stadt bietet dem Indienreisenden gleich zweierlei: das geballte Erlebnis von seinesgleichen, nach dem auch der härteste Traveller in der Fremde mehr lechzt als er zugeben möchte, und einen der kulturell attraktivsten Orte ganz Indiens.

      Tatsächlich gehört Agra von außen betrachtet zu den berühmtesten Städten Asiens. Im Rahmen einer im Jahre 2007 weltweit durchgeführten Befragung über die „Neuen Weltwunder“ belegte die Kaiserstadt der Mogulherrscher neben der Chinesischen Mauer und dem peruanischen Machu Pichu den ersten Platz. Indienintern liegt Agra ohnehin ganz weit vorne – kein Indiennovize, der nicht zuerst und vor allem nach Agra und dort schnurstracks zum schönsten Gebäude der Welt fahren würde: zum Taj Mahal. Längst hatte die jährliche Gesamtzahl der Besucher, die als Backpacker, als Gruppenreisende aus Übersee oder als Inlandstouristen die Stadt besuchten, die Millionengrenze überschritten, und wie viele es aktuell waren, wusste niemand. Das war eigentlich die gute Nachricht. Die schlechte Nachricht war, dass mit dem hemmungslosen Anwachsen des Massentourismus die traditionelle indische Gastfreundschaft in Agra zum Teufel gegangen war. Nicht, dass die Bewohner von Agra schlechter oder besser gewesen wären als die Einwohner von Madras oder Madurai - doch die Begleiterscheinungen des Massentourismus hatten ganz einfach die Sitten verdorben. Wo der normale Inder in seiner freundlichen Bereitwilligkeit einen nach dem Weg fragenden Touristen oft höchstpersönlich zu dem erfragten Ort geleitete, waren dergleichen Dienstleistungen in Agra nur gegen Bakschisch zu erhalten. Der Hauptbahnhof von Agra war von Neppern und Schleppern durchsetzt, und gegen die Preiskartelle der Rikschafahrer hatte kein Einzelreisender eine Chance. In ganz Indien war Agra berüchtigt für seine Schmuckhändler, die mit ihren falschen Edelsteinen die Kunden über den Tisch zogen, und keine Stadt wurde so oft von Lebensmittelskandalen erschüttert wie Agra. Unter Travellern ging das Bonmot, dass derjenige, der das versiffte Essen in einem der überteuerten Restaurants der Stadt überlebte, spätestens an einer der dreckigen Spritzen der Ärzte zugrunde gehen würde. Manche behaupteten aber auch, dass es gerade die Wirte aus Taj Ganj waren, die diese Horrorgeschichten lancierten, damit die zahlungskräftige Klientel davon abgehalten wurde, sich in einem der besseren Mittelklassehotels im Süden von Taj Ganj einzuquartieren.

      Leider waren bei meiner Ankunft in Agra alle normalen Zimmer des Kara Guesthouses belegt, weil die israelischen Rekruten auf Armeeurlaub in Agra eingefallen waren. So zeigte mir Rajiv eine Schlafgelegenheit im obersten Stockwerk: Der Boden war unverputzt, die Wände befanden sich noch im Rohbau, und wo Fenster hätten sein sollen, waren nur Löcher, durch die ich allerdings einen Teil des Taj Mahal hinter den Dächern der Nachbarhäuser sehen konnte. Elektrizität gab es nicht, und die sanitären Anlagen befanden sich eine Etage tiefer im funktionsfähigen Teil des Gebäudes. Fragend blickte mich Rajiv an, und ich nickte. Ich verfügte immerhin über eine Stirnlampe, mit der ich abends ein wenig würde lesen können, über ein eigenes Moskitonetz, das sich in nahezu jeder Räumlichkeit leicht befestigen ließ, über Ohrenstopfen, die mich vor den akustische Belästigungen der indischen Nacht beschützen würden und alles in allem über einen gesunden Schlaf.

      Am ersten Tag meines ersten Aufenthaltes in Agra ließ ich mich mit der Rikscha kreuz und quer durch die Stadt fahren. Zu meiner Entschuldigung muss ich sagen, dass ich damals noch wenig Indienerfahrung besaß und nicht wusste, dass sich aus der Rikschaperspektive fast alle indischen Städte gleichen. Wie Kalkutta, Delhi und Bombay, wie Patna oder Hyderabad erwies sich Agra abseits der weltberühmten Sehenswürdigkeiten als ein brüllendes Chaos aus Staub, Hitze und Blech. Auf meinem Weg zur Yamunabrücke passierte ich aufgerissenen Asphalt, unverlegte Rohre, offene Kloaken, halb zerstörte Fassaden und Stahlschrott, der quer und sperrig über der Fahrbahn lag.

      Solche Ansichten sind in Indien nichts Außergewöhnliches sondern nur die Bühne, auf der sich jene hunderttausend Miniaturszenen abspielen, denen das Indienerlebnis seine Intensität verdankt. Eine Rikscha, die wegen Überladung zusammengebrochen war, ein Karren, der in einem offenen Gulli festsaß – auf indischen Straßen nichts Besonderes. Ich sah einen kleinen Jungen, der mit herunter gelassener Hose auf dem Bordstein hockend, seinen kleinen Hund in die Höhe hielt, damit er kötteln konnte, während er selbst eine kleine Wurst in den Rinnstein fallen ließ. Zwei kleine Böcke, von denen man sich fragen mochte, wo das Muttertier abgeblieben war, standen sich inmitten des tosenden Verkehrs Köpfchen an Köpfchen gegenüber und fixierten sich wie Alphabullen. Eingehüllt in knallrote Saris winkten mir zwei junge Mädchen in ihrer

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