Indische Reisen. Ludwig Witzani

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Indische Reisen - Ludwig Witzani

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gelegt und ihre Arme ausgebreitet, als wolle sie sichergehen, dass jedermann ihr Leid zur Kenntnis nehme, und sei es auch nur, indem er die Füße heben und darüber hinweg steigen musste.

      All das war indischer Alltag, für dessen Anblick niemand eigens nach Agra kam. Die meisten Touristen, die nach Agra kamen, wollten sich lieber an imperialer Geschichte laben, die Anmutungen von Tausendundeiner Nacht erfahren und genau an jener exotischen Projektion partizipieren, auf der Indiens weltweite Werbewirkung beruhte. Die Ursprünge dieser Projektion gehen auf das Mogulreich zurück, das im 16. und 17. Jahrhundert Indien beherrschte und dessen bedeutendste Kaiser Akbar (1556-1605), Jehangir (1605-1627), Shahjahan (1628-1658) und Aurangazeb (1658-1707) ihre Hauptstadt Agra zu einer Stadt ohnegleichen ausgebaut hatten.

      An der Mogulepoche scheiden sich in Indien allerdings noch immer die Geister. Die Moslems preisen die Mogulära als den einsamen Höhepunkt indischer Kultur und Gesittung. Für die meisten Hindus waren die Moguln nur die letzte Erscheinungsform einer apokalyptischen Plage, die seit dem zwölften Jahrhundert aus den Bergen Zentralasiens kommend immer aufs Neue über Indien hergefallen waren. Nicht genug damit, dass die moslemischen Heerführer Nordindien erobert und verwüstet hatten: Es waren ihnen andere moslemische Konquistadoren gefolgt, die dann nicht nur die Hindus sondern auch noch ihre gerade erst siegreichen Glaubensbrüder massakrierten - unter ihnen der Schrecklichste von allen, der Mongole Tamerlan, der im Jahre 1398 Delhi in Schutt und Asche legte und einhunderttausend Kriegsgefangene einfach niedermetzeln ließ.

      Babur, der erste Großmogul, der den Sultan von Delhi 1526 in der Kanonenschlacht von Panipat besiegte und das nordindische Mogulreich begründete, war ein Nachkomme des Völkerschlächters Tamerlan. Sein Sohn Humayun, der das Reich fast wieder verloren hätte, war ein zögerlicher Melancholiker, der einen ganz unkriegerischen Tod erlitt, als er im Jahre 1556 in seiner Bibliothek in Delhi die Treppe herunterfiel. Sein Nachfolger wurde Akbar, der dritte und bedeutendste Großmogul, unter dem es eine Zeit lang immerhin so ausgesehen hatte, als wäre es möglich, den Antagonismus zwischen Hindus und Moslems zu überwinden. Fatepur Sikri, die gigantische Geisterstadt vor den Toren Agras, war Akbars architektonisches Vermächtnis, und mit diesem Ort wollte ich meine Reise durch die Vergangenheit beginnen.

      Eine knappe Stunde dauerte die Busfahrt vom Agra Fort nach Fatepur Sikri. Über dreißig Kilometer führte die Straße nach Westen in ein sanft gewelltes Hügelland durch Dörfer und kleine Weiler, ehe hinter einem letzten Hügel in der Ferne die Silhouette der verlassenen Stadt sichtbar wurde. Die hoch aufragenden Wehrmauern, das Riesentor über der gewaltigen Treppe, die zahlreichen Minarette und die Umrisse der Stadt erschienen mir wie die Kulisse eines Monumentalfilms, und unwillkürlich spähte ich nach den Komparsenhorden, die nach den Anweisungen eines Hollywoodregisseurs gleich mit Holzschwertern und Sandalen zur Schlacht antreten würden. Doch die wuchtigen Mauern von Fatepur Sikri waren keine Fakes, sondern die authentischen Zeugen einer steingewordenen Vergangenheit, die sich als eine Laune der Weltgeschichte bis in die Gegenwart gerettet hatte. Die Inder, die an diesem Tag mit dem gleichen Bus wie ich aus Agra angereist waren, aber blickten gar nicht mehr hoch. Fatepur Sikri hatte für sie den Bereich der Geschichte längst verlassen und war zu einem Stück Natur geworden wie der Fluss, der Hügel oder die weite Ebene, auf der sich die Stadt erstreckte.

      In der Nähe der großen Moschee von Fatepur Sikri entstieg ich dem Bus und lief zum Buland Darzawa, dem größten Siegestor Asiens. Über eine weiträumige Treppe stieg ich wie ein Zwerg einem vierundfünfzig Meter hohen Tor entgegen, das in seiner Größe in der Welt nichts Vergleichbares hat. Zusammen mit den beiden kreisrunden Ornamenten über dem Eingangsiwan wirkte das Tor wie ein riesiger Mund, der die Welt verschlang. Zahlreiche Nischen, Seitenstreben und Mogultürme in den verschiedensten Größen bewahrten das monumentale Tor vor jeder Klobigkeit, und der Schein der Nachmittagssonne illuminierte das Gestein mit seinem blutroten Licht.

      Nach der Durchschreitung des Buland Darzawa erreichte ich den Innenhof der großen Moschee von Fatepur Sikri, einem der mit 165 Metern Länge und einer Breite von 133 Metern größten Vorhöfe der islamischen Welt. In diesem Hof, an eine der Mauern angelehnt, befand sich das baldachinartige Mausoleum Scheich Saalem Chistis, ein ganz aus Marmor errichteter Bau, dessen Fensterfronten mit Tausenden hauchdünner Ornamente perforiert waren. Der Überlieferung nach soll der islamische Sufi Saalem Chisti, der hier als Einsiedler lebte, dem Großmogul die Geburt des lange ersehnten Thronfolgers vorausgesagt haben. Seinen eigenen Sohn soll er gleich nach dieser Weissagung getötet haben, um auf diese etwas krasse Weise die Umstände für die Prinzengeburt zu verbessern. Als dann Akbars Hauptfrau tatsächlich schwanger wurde und im Jahre 1567 einen Sohn gebar, entschloss sich Akbar an dem Ort, der ihm so viel Glück gebracht hatte, seine neue Hauptstadt zu errichten. Mauern, Tore und Paläste wuchsen in den Himmel, Teiche und Brunnen wurden angelegt oder neu gebaut, ehe der Großmogul im Jahre 1571 mitsamt seinem Hof von Agra nach Fatepur Sikri zog. An alles war gedacht worden – nur nicht an die Wasserversorgung, die sich bald als so unzureichend erwies, dass der Großmogul nach weniger als zwanzig Jahren seine neue Hauptstadt wieder verlassen und nach Agra zurückkehren musste. Zurückgeblieben ist eine Geisterstadt, prachtvoll und grandios wie ein Traum, der zu schön war, um wahr zu sein und der an der schnöden Realität von Bodenbeschaffenheit und Wasservorkommen zerschellte.

      Diese eigentliche Kaiserstadt nordöstlich der großen Moschee war groß, geräumig und leer, wie manches Herz, nachdem die Liebe es verlassen hat. Im Mittelpunkt der fast vollständig erhaltenen Anlage erhob sich das fünfstöckige „Goldene Haus“, von dessen Fenstern aus die Haremsdamen das Treiben auf den weiten Höfen beobachten konnten. Ich erkletterte das oberste Stockwerk des „Goldenen Hauses“ und erblickte ein Gesamtpanorama des Palasthofes mit seinem großen Teich, mit den Schlafgemächern des Kaisers und der großen Audienzhalle auf der anderen Seite. Alles war in rotem Sandstein gehalten und mit unzähligen Mogultürmchen geschmückt, die aus der Entfernung aussahen als zöge eine Karawane aus lauter Elefanten mit dünnen Beinchen vorüber. Zahlreiche Balkone, Erker und runde Kioske, die die Mauern krönten, durchgliederten die Fassaden der Gebäude wie eine vertikale Landschaft. Reichhaltiges Dekor schmückte die Kapitele und Portale – unverkennbar hatte die Darstellungsfreude der hinduistischen Kunst die strenge Askese der islamischen Architektur beeinflusst.

      Das möglicherweise berühmteste Gebäude der Kaiserstadt war das Diwan-i-Khas, das Juwelenhaus, in dem sich die große Audienzhalle Akbars befand. Eine einzige Säule mit wild wuchernden Ausläufern trug die Decke des Raumes, in dem Akbar Gelehrte der verschiedensten Religionen miteinander diskutieren ließ. Obwohl Akbar an bestimmten Formen des Islam festhielt, hatte sich der Großmogul spätestens in der Epoche von Fatepur Sikri längst vom strengen Islam gelöst und sich auch mit den anderen Gottesvorstellungen beschäftigt, die in seinem Reich geglaubt wurden. Wo einhundert Jahre später Akbars Urenkel Aurangazeb mit seiner religiösen Intoleranz die Totenglocke des Mogulreiches läuten sollte, hatte sich sein Urgroßvater sogar in der Kreation einer neuen Reichsreligion versucht. Din-e-Ilahi, „Religion Gottes“, nannte Akbar dieses philosophisch-theologisches System, das alle Gotteszugänge der großen Religionen als gleichberechtigt anerkannte und in dem versucht wurde, Islam und Hinduismus zu verbinden. Doch mit Din-e-Ilahi ging es Akbar genauso wie mit seiner Hauptstadt. Die neue Religion Gottes hatte keine Zukunft. Als reine Kopfgeburt konnte sie weder die Masse der Hindus noch der Moslems überzeugen. Mit Akbars Tod im Jahre 1605 verschwand sie auf Nimmerwiedersehen im Orkus der Geschichte – der Mogulhof war schon zwanzig Jahre vorher wieder nach Agra zurückgekehrt.

      So lag etwas Wehmütiges über der verlassenen Stadt, eine Ahnung von Frieden und Toleranz, die an diesem Platz nicht hatte Wirklichkeit werden können. Die Sonne sank tiefer, die Schatten in den Höfen wurden länger, der rote Sandstein glühte, als würden sich die Fassaden der Paläste entzünden. Ich schloss die Augen und fantasierte Prinzessinnen und Generäle, Höflinge, Beamte und Diener auf einem imaginären Bühnenbild der Vergangenheit. Der Großmogul verfolgte von einer Sänfte aus das Treiben auf den weiten Plätzen, christliche Missionare aus Goa waren eingetroffen, um am Abend mit Sufis und Yogis im Diwan-i-Khas zu diskutieren. Da rüttelte mich ein Aufseher an den Schultern. Die Dämmerung war hereingebrochen, ich musste gehen.

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