Kuss der Wölfin - Die Ankunft (Band 1). Katja Piel
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„Wo steckt das Biest denn?“ Er strich sich die Ärmel hoch und entblößte kräftige, gebräunte Unterarme.
„In der Haustür.“
Er grinste.
„Na, dann mal los, bevor Frau Meier mit ihrem dicken Dackel da durch will.“
Zu zweit gelang es uns tatsächlich, das schwere Paket bis ins Dachgeschoss zu hieven, denn in den Lift passte es natürlich nicht rein. Schließlich hatten wir es im Wohnzimmer. Ich keuchte und rieb mir die Arme, um nicht aufzufallen, und hoffte, Sam würde nicht bemerken, dass ich gar nicht schwitzte.
„Möchtest du etwas zu trinken?“, fragte ich ihn.
„Gerne. Ein Wasser, wenn du hast.“
Während ich ihm in meiner kleinen Küche ein Glas eingoss, schnitt er die Verpackung meines neuen Möbels auf und begann, Bretter zu sortieren. Inzwischen kam auch Alexa mit dem Akkuschrauber rüber.
Wir machten uns an die Arbeit. Während Alexa frei Schnauze begann, Bretter aneinanderzulegen, las Samuel sich die Aufbauanleitung durch und dirigierte Alexas Bemühungen. Ich beobachtete aufmerksam, wie die beiden sich kabbelten. Ihr Umgang miteinander war sehr vertraut, sie mussten schon lange ein Paar sein.
Nach einer Weile klingelte mein Handy. Es war jemand von der Uni. Etwas in meinen Anmeldeunterlagen stimmte nicht.
Ich schluckte einen Anflug von Panik hinunter. Seit die Zeiten so modern waren, dass ich für jedes neue Leben einen Haufen neuer gefälschter Papiere brauchte, war ich schrecklich nervös, wenn die Bürokratie etwas von mir wollte.
Ich ging auf den Balkon, um in Ruhe zu telefonieren. Es stellte sich heraus, dass ein Teil meiner Unterlagen, den ich per Mail geschickt hatte, irgendwie nicht angekommen war und nun fehlte. Ich wurde gebeten, mein Abiturzeugnis nachzureichen.
Puh. Ich war erleichtert. Mein Abiturzeugnis war sogar echt: Ich hatte das Abi im vergangenen Sommer auf einer Abendschule gemacht. Zum dritten oder vierten Mal in diesem Leben. Keine echte Herausforderung mehr. Ich versprach der Dame von der Studentenkanzlei, mich darum zu kümmern, und legte auf.
Im Wohnzimmer war die Arbeit zum Erliegen gekommen, weil die dritte Frau zum Festhalten fehlte. Stattdessen beugten Sam und Alexa sich gemeinsam über einen Pappkarton.
„He! Das ist aber indiskret, was ihr da macht.“
Sam sah zu mir hinauf, Fotos in den Händen. Fotos meiner früheren Leben. Hätte ich es doch lieber übers Herz gebracht, sie zu vernichten.
„Wow. Wer ist das?“
Er hielt mir ein Foto entgegen, das mich bei einem Shooting zeigte. Bienenkorbfrisur, damals noch in Dunkelbraun, Minirock, hohe Stiefel. Eindeutig 60er Jahre.
„Das ist eine Schwester meiner Mutter. Meine Tante Annette. Sie war Fotomodell.“
„Nicht schlecht.“ Er pfiff anerkennend durch die Zähne. „Du bist ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Sicher, dass das deine Tante ist, nicht deine Mutter?“
Ich grinste humorlos. „Meine Mutter ist bei meiner Geburt gestorben. Deshalb, ja, ganz sicher.“
„Da sind noch mehr von ihr.“ Alexa kramte in der Kiste. Fotos von mir im Badeanzug, auf einem Bootssteg mit einem hübschen Dunkelhaarigen, im Etuikleid vor dem Casino in Monaco. Ja, ich wusste schon, wie man lebte. Wenn ich hier mit meinem Studentenleben fertig war, würde ich wieder eine glanzvollere Identität wählen. Mein Leben war einfach zu lang, um es ohne gute Hotels zu verbringen.
„Diese Ähnlichkeit“, staunte Alexa. „Kaum zu glauben, dass das nicht du bist!“
„Das Foto ist vierzig Jahre alt! Da müsste ich mich aber gut gehalten haben.“
„Wo lebt denn deine Tante Annette heute?“, wollte Sam wissen.
„In Amerika“, sagte ich schnell. „In einem Vorort von L.A. Sie ging in den Achtzigerjahren nach drüben, wegen ihrer Karriere. Heute ist sie Seniormodel für verschiedene Designer.“
„Cool. Ich würde gerne mal sehen, wie sie heute aussieht. Können wir sie mal googeln?“
„Sie arbeitet unter einem Pseudonym. Ich weiß nicht, unter welchen.“
„Lass uns einfach mal ihren bürgerlichen Namen eingeben.“
„Ich dachte, du bist hier, um mir zu helfen?!“, fauchte ich.
„Das bin ich“, sagte er und sah mich lange an.
„Wenn du meine Hilfe brauchst. Okay, vergiss die Tante.“
„Genau. Lieber neue Schränke als alte Schachteln“, sagte Alexa fröhlich und ließ den Akkuschrauber schnurren. „Können wir dann?“
Als mein Schrank stand und meine Helfer sich nach einer letzten Tasse Kaffee verabschiedet hatten, packte ich den Karton und ging damit auf den Balkon. Mein Vormieter hatte seinen Grill dort stehenlassen, ein dreibeiniges, wackeliges, fettverkrustetes Ding, das ich noch nicht entsorgt hatte – zum Glück.
Ich legte ein paar Fotos in die Feuerschale und zündete sie an.
Ich war viel zu leichtsinnig geworden. Vierhundert Jahre war mir nichts passiert. Nahezu unsterblich, surfte ich durch die Jahrhunderte, während die kurze Lebensspanne der Menschen um mich herum verlosch. Und nun begann ich, mir den Luxus der Sentimentalität zu leisten. Ich hatte die Fotos aufgehoben, damit ich eine Chance hatte, mich an meine vergangenen Leben zu erinnern – und weil ich immer noch fasziniert von moderner Technik war.
Ich drehte ein beinahe zweihundert Jahre altes Foto zwischen den Fingern, bevor ich es den Flammen übergab. Andere Leute hängten so etwas ins Museum. Ich war damals eine der ganz wenigen Menschen gewesen, die sich vor den riesigen schwarzen Kasten gewagt hatten, um eine Photographie von sich anfertigen zu lassen. Mit Schaudern dachte ich an die Korsetts und Unterröcke. Nein, ich war jedenfalls ein Fan der modernen Zeiten – so modern, dass Fotos auf Papier längst überholt waren.
Ich dachte an meinen Facebook-Account. War ich zu leichtsinnig? Ich postete mein erfundenes Leben, aber ein echtes Foto. Heutzutage war man ja schon fast verdächtig, wenn man kein Facebook-Profil hatte. Wenn jemand mich finden wollte, hatte er es heute in den Zeiten des Internets leicht wie noch nie.
Im nächsten Leben würde ich den Namen Stubbe ablegen. Wieso ich ihn wieder gewählt hatte, nach lauter Leben als Klein, Erhardt, Remeis und Gordon, wusste ich nicht.
Vielleicht hatte ich meine Wurzeln spüren wollen. Sie waren so weit weg.
Die restlichen Fotos warf ich ins Feuer. Es rauchte und stank. Der Wind blies kleine Ascheröllchen vom Balkon.
Ich ging rein, um meinen neuen Schrank einzuräumen.
6. Kapitel
Bedburg, kurz nach Weihnachten 1588
«Jetzt ist das Elend