Ich durfte alles und habe oft teuer bezahlt. Susanne Albers
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Und ab diesem Aufenthalt wurde ich angstfrei. Aus meinen eigenen Anfällen machte ich mir nicht mehr so viel. Übermut ist wirklich das richtige Wort. Aber es war sehr gefährlich.
7. Hamburg 1982, Alsterdorfer Anstalten bei Prof. Funke
1982 las meine Mutter einen Artikel in der Zeitung mit einem Interview mit Herrn Prof. Funke aus den Alsterdorfer Anstalten über das Thema Epilepsie. Sie musste sofort an mich und meine ausweglose Situation denken. Meine Mutter war ein außerordentlich lebhafter Mensch; immer auf den Beinen, immer eine gute Idee.
So dauerte es nicht lange, dass sie einen Termin zur Sprechstunde bei Prof. Funke für mich in Hamburg (eine Autostunde von Bardowick) ausmachte. Sie brauchte aber eine Überweisung von Dr. Blumenbach für mich. Dabei geriet sie ins Stolpern. Dr. Blumenbach war mit der Konsultation überhaupt nicht einverstanden, Zähneknirschend übergab er ihr schließlich die Überweisung.
Herr Prof. Funke, die große Epilepsie Koryphäe nahm sich tatsächlich Zeit für uns. Meine Mutter war glücklich, ich skeptisch. Da ich aber nun überhaupt nichts zu verlieren hatte, im Gegenteil, bin ich freudig mitgegangen.
Er nahm sich Zeit für uns, hörte geduldig zu, machte noch ein EEG von mir und sah es durch. Prof. Funke kritisierte meine Medikation. Er schlug Leptilan (Valproinsäure) vor. Leptilan war Anfang der 1980er sehr vielversprechend auf den Markt gekommen. Herr Dr. Blumenbach solle es mir verschreiben, Prof. Funke gab uns einen Arztbrief mit. Natürlich war Herr Dr. Blumenbach von diesem Medikamentenwechsel überhaupt nicht angetan, verschrieb es aber.
Vom Leptilan nahm ich an Gewicht so einige Kilo zu. Außerdem hatte es Einfluss auf meine Monatsblutung. Die Regel blieb aus. Oh Schreck, ich hatte schon einen ersten Freund, kann das sein? Schwanger? Die Alarmglocken schellten. Auf in die Apotheke, Schwangerschaftstest kaufen.
Der 1. Test war positiv, der 2. auch, der 3. negativ. Oh je oh je… auf zur Gynäkologin. Große Untersuchung, Entwarnung, nicht schwanger.
Und in den folgenden Monaten wurde es mit der Unregelmäßigkeit nicht besser. Wir wurden vorsichtig und benutzten statt der Pille Kondome.
Das Leptilan behielt ich vorerst, auch wenn es nicht unbedingt gegen die Anfälle half; es war besser, als gar nichts.
8. In der Schule geschnitten, gemieden und gemobbt
Von 1971 bis 1975 ging ich in Bardowick zur Grundschule. In Bardowick gab es vier 1. Klasse mit je 30 Kindern. Es war eine schöne Zeit, unbeschwert, spannend und abwechslungsreich. Es ging mir ja auch gut, ich hatte noch keinen dieser schrecklichen Anfälle. Da war nichts, was mich belastete.
Nach der Grundschulzeit kam ich 1975 aufs Gymnasium nach Scharnebeck. Weitere Gymnasien waren in Lüneburg. Es gab damals so eine normale Übereinkunft der umliegenden Gemeinden, dass Kinder aus Dörfern im Landkreis Lüneburg nach Scharnebeck kamen. Nur wer Beziehungen, besondere Kontakte oder bereits Geschwisterkinder auf Lüneburger Gymnasien hatte, konnte sein Kind nach Lüneburg schicken.
Scharnebeck war 10 km von Bardowick entfernt. Es fuhren Schulbusse, die nach und nach die Kinder aus den Gemeinden abholten. In den Bussen war es unendlich laut und stürmisch. Ich empfand die eineinhalb stündige Fahrerei als absolute Herausforderung. Ab und an hatte ich das Glück, dass meine Mutter mich mit dem Auto gefahren hat.
Nun also die Gymnasialzeit. Es war für mich der reinste Horror. Ich bin absolut ungern hingegangen. Vor laufendem Klassenbetrieb bekam ich meine Anfälle. Ich wurde von vielen gemobbt, gemieden und belacht. Klar, ich hatte auch die eine oder andere Schulfreundin. Aber meine Mitschüler machten mir deutlich klar, dass ich unerwünscht war. Sie tuschelten hinter meinem Rücken. Ich durfte beim Geräteturnen nicht mitmachen. Darauf waren einige neidisch.
Notfallmedikamente gab es in der Zeit noch nicht in der Form, dass sie mir vom Klassenlehrer verabreicht wurden, oder gar im Schulsekretariat im Fach lagen. Dazu war auch gar keine Zeit. Ich hatte ja kein Vorgefühl, keine Aura. Es passierte einfach so, peng: Anfall. Vom Stuhl gekippt und gezuckt, uriniert--- das komplette Programm. Nach diesen großen Anfällen ist es bei mir so, dass ich später in einen mehrstündigen Tiefschlaf falle. Ich komme nach dem Anfall zu mir und bin fix und fertig. Für kurze Zeit legte man mich auf eine Liege. Die Lehrer riefen dann bei meinen Eltern an. Meine Mutter setzte sich ins Auto und kam, um mich abzuholen, damit ich zuhause schlafen konnte.
Jetzt, 35 Jahre später, ist meine Erinnerung nur noch sehr schwach. Es war so schrecklich, dass ich vieles verdrängt habe.
Auf der anderen Seite habe ich mir meine Traurigkeit über das Verhalten meiner Mitschüler auch nicht so anmerken lassen. Ich war kein introvertiertes stilles Kind. Nein. Im Gegenteil, ich war nach außen hin so ein bisschen cool und lauter, ich wollte dazu gehören. Ich trug Anti Atomkraft Sticker und lief in Jeans und Parka rum. Wir waren kein typisches Popper- Gymnasium, so wie Bettina mir heute von ihrer Schule erzählt. Bei uns gab es alles: links, rechts, Popper, alternativ und ein paar Punker. Wir waren halt alle nicht aus einem bestimmten Stadtteil, sondern setzten uns aus Kindern und Jugendlichen, die aus dörflicher Struktur kamen, zusammen.
In der 7. Klasse stand die zweite Fremdsprache neben Englisch zur Wahl. Ich hätte liebend gern Latein genommen. Ich stand mir selbst im Wege. Da ich es meinen Eltern recht machen wollte und bei manchen Mitschülern dazu gehören wollte, entschied ich mich für Französisch. Meine Mutter sagte: „Susanne, mit Latein kannst Du doch nichts anfangen, es ist eine tote Sprache, nimm Französisch.“
Mein ganz still gehegter Traum, evtl. Theologie, Philosophie oder Medizin zu studieren, wäre nie möglich geworden. Meine Eltern wollten nicht, dass ich mich überanstrengte. Ich sollte am besten überhaupt nicht aufs Gymnasium gehen, damit ich es weiterhin leicht habe und keinen dieser schrecklichen Anfälle durch Leistungsstress provoziere. Sie wünschten mir einen einfachen Job, Kinder, Küche, Kirche, ich sollte später einmal so viel Geld verdienen, dass ich mich davon ernähren könne. Sie waren dagegen, dass ich einmal studieren wollte, sagten auch, dass sie mir das nie bezahlen würden, sondern ich mir mein Geld schon so dazu verdienen müsse. Ob ich eventuell hochbegabt sei, oder nicht, davon wäre nie die Rede gewesen. Auf diese Idee wären meine Eltern nicht gekommen. Alles drehte sich nur um meine Krankheit. Jeder Anfall, all die Sorgen und der Kummer, den ich meinen Eltern machte, stand im Mittelpunkt. Ich hatte ein unglaublich schlechtes Gewissen, wie schwer ich es ihnen doch machte.
Nun also Französisch. Unsere Schule kooperierte mit einer anderen Schule aus Frankreich. Es gab das typische Schüleraustauschprogramm. Per Los bekam ich Isabelle aus Clamart bei Paris. Sie war für 2 Wochen bei uns als Austauschschülerin. 8 Wochen später sollte ich dann für ebenfalls zwei Wochen bei ihrer Familie in Paris wohnen. Isabelle kam aus einem humanistischen und altehrwürdigen hochgebildeten, studierten Elternhaus. Sie liebte Klassik und konnte mit der typischen Rock- und Popmusik, die alle bei uns hörten, nichts anfangen – und sie hatte mega altmodische Klamotten an, trug eine Hornbrille