Nur ein Wunder ist genug. Winfried Paarmann
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Читать онлайн книгу Nur ein Wunder ist genug - Winfried Paarmann страница 3
Der alte Schulfreund. Auch Lukas erkannte jetzt klar die Stimme.
Gerd antwortete mit dem Unterton des Strahlemanns: „Richtig - Gerd! Volle Punktzahl für den Kandidaten! Deinen Spickzettel, den du mir bei der Abi- Klausur in Bio hast rüberwandern lassen, besitze ich noch. Hat einen Ehrenplatz in einer Schublade.“ Er lachte heftig. „Wie geht’s dir, altes Haus?“
Lukas musste sich sammeln. Nichts konnte er als so störend und deplaziert empfinden wie diesen Anruf von Gerd. Und dieser betrachtete ihn offenbar noch immer als Freund, obwohl sie sich seit Jahren nicht mehr gesehen hatten.
„Bin für zwei Tage hier in der Stadt,“ sagte Gerd. „Aus meinem Notebook sprang mir eben deine Adresse und deine Telefonnummer entgegen…“
Eine Stille.
Gerd sprach jetzt mit etwas gedämpfter Stimme: „Sag mal – hattest du da eben geflucht? Gerade als du den Hörer abgehoben hattest…“
„Möglich.
Ein kleines Malheur. Etwas ist umgestürzt.“
Er blickte erneut nach dem Glas. Scherben, zahllose kleinere Splitter. Die Flüssigkeit war als große Pfütze über den Boden verteilt, der größere Teil über den an die Matratze angrenzenden beigefarbenen Teppich, der ihn längst aufzusaugen begann.
„Mein Anruf war schuld?“
„War er.
Nicht mehr zu ändern.
Also, zwei Tage bist du hier in der Stadt...“
„Bis morgen Mittag.
Wie wär’s? Hast Zeit für mich heute Abend?“
„Heute Abend?“
„Schon anders verplant?
Bin im Adlon.
Kannst einfach herkommen.
Eine schnieke Hotelbar. Ich lade dich ein.“
„Im Adlon?“ Das Nobelhotel. Das klang nach einer glatten gut gelaufenen Karriere.
Lukas sah ihn vor sich: schon als Schuljunge etwas übergewichtig, ein leicht schwammiges Gesicht, das er wie mit einer Gute-Laune-Aufschrift herumtrug, heitere Laune als Dauereinrichtung.
„Exzellenter Zimmerservice…“ Er schnalzte „und bezaubernd weiblich...“ Er lachte wieder, in dieser etwas übertriebenen rundbäuchigen Art, wie Lukas ihn kannte. „Also, wir sehn uns?“
Schweigen.
Gerd nahm es als Zusage. „Irgendwann nach acht. Habe eben noch ein Geschäftsessen.
Dann aber ist Zeit - für alte Paukergeschichten...“ Wieder lachte er. „Lukas! altes Haus!
Was eigentlich hast du selbst so gemacht in den letzten fünfzehn Jahren?“
Wieder kam keine Antwort.
„Also – das packen wir später aus.
Adlon. Nach acht.“
Gerd sah die Abmachung als geregelt.
„Muss jetzt ins Taxi.
Also: War toll, dich wieder mal so zu sprechen, alter Junge. Bis bald!“
Das Gespräch war beendet.
Lukas starrte auf den Hörer.
Er kroch zum zersplitterten Glas und fuhr mit den Fingern durch die Scherben.
Unglaublich. Dieses so kostbare Nass.
Es hatte Wochen gebraucht, bis er ein solches Getränk herzustellen konnte.
Es würde wieder Wochen kosten, noch einmal genau diese Art wirksamer Tabletten aufzutreiben.
In ihm kämpften maßlose Wut und Ratlosigkeit.
Sollte er das verbliebene Nass vom Boden auflecken? Oder absammeln mit einem Schwamm? Nur ein dummer Gedanke. Der größere Teil war versickert im Teppich.
Es gab andere Arten der Selbsttötung: sich vom Balkon stürzen; mit dem Auto gegen einen Brückenpfeiler rasen; sich die Pulsadern aufschneiden – längst dem Adernverlauf und dabei in der Wanne sitzen und langsam verbluten.
Er hatte sie alle durchgespielt.
Alle hatten sie das Risiko, nicht zum Erfolg zu führen. Und außerdem zu einer lebenslangen Verkrüppelung oder Querschnittslähmung. In allen gab es einen Akt der Gewalt.
Er hatte für sich die Art des friedlichen Einschlafens gewählt. Eine Art der Selbsttötung, die viele als zu leicht und feige betrachteten.
Er trat wieder auf den Balkon.
Die Sonne glitzerte auf den Autodächern wie zuvor. Sie glitzerte auf Häuserdächern und Fensterscheiben. Durch die Luft schwirrten Vogelstimmen. Aus einer offenen Kneipentür schwappte jetzt auch eine Welle heißer rhythmischer Klänge und dazu ein heftiges Lachen.
Die Welt, so schien es, vibrierte in Freude.
Wusste er selbst noch, was Freude war?
x x x x
Zur gleichen Zeit saß in einer kleineren Kirche eine Cellospielerin auf der Empore neben der Orgel und begleitete das Largo aus „Xerxes“ von Händel. Eine Trauung fand statt.
Die dunkelhaarige attraktive Frau musizierte auf ihrem Cello mit sattem Klang. Ein hinreißender Vortrag, eine Vollblutmusikerin.
Die Feier in der Kirche war beendet.
Die junge Cellospielerin trat aus dem Kirchenportal, dort empfing sie ein junger Mann. Beide tauschten einen flüchtigen Kuss.
Der junge Mann hatte einen missmutigen Ausdruck auf dem Gesicht. Er blickte auf die Uhr. „Gleich halb drei.“ Der Vorwurf in seiner Stimme war unüberhörbar.
Die junge Frau zuckte entschuldigend mit den Schultern. „Du hättest hereinkommen können.“
Der junge Mann warf einen abfälligen Blick in Richtung der Kirche. „In diesen Laden -?
Dem Herrn Pfarrer die Hand schütteln...
Ich könnte all diese Kirchen in die Luft sprengen.“ Seine Stimme sparte nicht mit Verächtlichkeit.
„War ein sehr freundlicher älterer Herr,“ sagte sie
„Sind sie alle. Wölfe im Schafspelz,“ sagte der junge Mann
Egal!“ Mit einem Blick auf ihr Cello fügte er an: „Solange sie zahlen.“
Beide liefen zum geparkten Auto. Die junge Frau verstaute ihr Cello auf dem Rücksitz.