FUKUSHIMA - IM SCHATTEN. Juergen Oberbaeumer

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FUKUSHIMA - IM SCHATTEN - Juergen Oberbaeumer

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Kinder, die jungen, frischen Triebe am alten Baum unseres Lebens hier: fehlen so sehr.

      Gestern war aber Baby-Tag: gleich zwei liebe junge Familien kamen zu Besuch, Ryuichi und Noriko mit Baby Yuzuki aus Osaka ohne „strahlende“ Probleme, und dann Kazuki und Gai dazu mit der kleinen Joy. Sie wird demnaechst zwei, ist schneller als man gucken kann und sagt „Oh, dear!“ im drolligen, exakt gleichen Tonfall wie ihre Mutter. Von den Ereignissen ueberrollt und brutal auseinandergerissen diese drei.

      Kazuki ist angestellt in der ehemaligen Gemeindeverwaltung Naraha, innerhalb der 20-Kilometer-Zone, und die drei wohnten hier sehr bequem in unserer Nachbarschaft – bis zu DEM Tag. Gai ging dann mit der Tochter nach Australien… und kommt nicht zurueck. Kazuki dagegen arbeitet mehr denn je; er ist den Evakuierten zugeteilt, die jetzt in Aizu leben.

      In Behelfssiedlungen leben um die 100.000 Menschen, teils aus Tsunami-Gebieten, teils aus der Todeszone evakuiert, in bedraengten Verhaeltnissen und oft ohne Verwandte und Freunde in der Naehe zu haben.

      Manche, vor allem Alte, werden depressiv oder anders krank. Sterben. Ein schweres Leben haben sie – obwohl die wegen Strahlung Evakuierten finanziell ganz gut stehen: pro Person kriegen die im Moment eine monatliche Entschaedigung von fast tausend Euro, abgesehen von allem Anderen. Manche von denen machen sich dadurch ziemlich unbeliebt: profitierten in der Vergangenheit als Tepcos Leute von all den Vorteilen die ihnen auf Kosten Anderer entstanden: und profilieren sich jetzt auch noch als Opfer! Wenn man dagegen die wirklichen Verlierer sieht, die Bauern, die einfachen Leute, die lange Ansaessigen aus der Gegend – moechte man an die Decke gehen vor Wut. Um alle jedenfalls muss sich Kazuki kuemmern.

      Wie kann er Gai und Joy ein Heim schaffen? Wo? Die beiden wollen nicht hierhin zurueck. Viele junge Muetter mit Kindern gehen weg. Auch wir waeren vielleicht nicht mehr hier an ihrer Stelle! Schaeden im Erbgut, Krebs fuer Kleinkinder: beide Risiken sind fuer junge Eltern eigentlich nicht zu tragen; ich kann Gai gut verstehen.

      Andererseits gibt es natuerlich auch junge Familien die bleiben: Meine Freunde Rick und Sanae zum Beispiel mit ihrer kleinen Tochter Qiana Aria. Was soll man machen, wenn man ein neues Haus hat und die Schulden abbezahlen muss? Was nur geht, wenn das Einkommen aus der kleinen Sprachschule regelmaessig fliesst? Man beisst die Zaehne zusammen und hofft das Beste; sie machen das genau wie wir – mit hoeherem Einsatz.

      Gai, der ich mich vorgestellt hatte: „Hi! I’m Juergen, and I’m an idiot!“ wie ich mit Adrian hier rumalberte, und die leicht wie eine Feder durch den Raum schwebte bevor sie schwanger und Mutter wurde! Ich glaube fast, dass Adrian nicht so buddhistisch „streng“ geworden waere, wenn er sie ein paar Jahre frueher kennengelernt haette; eine Frau mit einem so lieben Herzen wie sie! „I’m Gai, woman of mystery…“ hatte sie erwidert.

      Und Kazuki, der gluecklich war so eine gute Frau zum Traualtar fuehren zu koennen, Adrian traute die beiden uebrigens, das geht hier alles, liebt den deutschen Fussball und quatschte gern bei einem Bierchen mit Leon und Markus ueber Schalke und Dortmund: tempi passati.

      Wir versorgten den beiden einmal das Federvieh in ihrem Haus am Strand – wenn sie da noch gewohnt haetten waeren sie weggeschwommen. So aber, in der neuen Huette etwas weiter weg, blieben ihre Fuesse trocken. Ob sie zu Haus waren am elften Maerz weiss ich gar nicht mal; Kazuki arbeitete natuerlich, ganz nah am AKW Dai-ichi! aber Gai?

      Ich fuhr in der Nacht, auf der Suche nach meiner Frau, mehrmals bei ihnen fast am Haus vorbei, kam aber gar nicht auf die Idee nach ihnen zu schauen. Auch Mariko am naechsten Morgen nicht, aber da war ja auch die allgemeine Flucht schon im Gange und wir wussten irgendwie, dass sie nicht mehr da waren. Am Tag vorher uebrigens war Mariko Babysitterin bei Joy und fast verzweifelt ueber das nichtendenwollende Weinen der Kleinen, nachdem die Mutter aus der Tuer gegangen war. „Sie hatte so einen abgrundtief traurigen Blick! Hoerte und hoerte nicht auf zu schreien“ erzaehlte Mariko mir abends, „bis sie schliesslich erschoepft einschlief.“

      Gai war auch diejenige gewesen, die eine Themenparty zum Einzug eines anderen jungen Paars ein paar hundert Meter weiter organisierte hatte. Ken und Mayu hatten ein huebsches Haeuschen direkt an der N 6 gebaut. Mariko und ich mochten es ganz gern anschauen, fanden nur, es sei doch zu dicht an der grossen Strasse, besonders mit einem Baby! Wenn da nur nicht mal ein Unfall passieren wuerde… Uebrigens fuehrt die N 6 dort direkt am Hafen entlang, keine dreissig Meter unterhalb des Hauses lagen die Fischerboote. Das Thema der Einzugsparty war nun, wie war das moeglich? „Under the Sea“ und alle Gaeste hatten irgendwas Meerjungfrauen- oder Neptunhaftes oder sonstwie Fischiges, Muscheliges oder Tangiges anzuziehen oder anzustecken. Ich trug ein Kettchen mit kleinen Muscheln dran, mehr schlecht als recht kostuemiert, Mariko ging gar nicht erst mit.

      Ich hatte auch keine Lust, wie ich mich lebhaft erinnere, aber wollte kein Spielverderber sein… und machte mit. Ein paar Muscheln um den Hals gehaengt fuhr ich auf ein Stuendchen hin.

      Die Party war am Wochenende bevor aus Spass Ernst wurde!

      Mayu und Familie konnten entkommen, eigentlich konnten alle entkommen, die die Tsunamiwarnung ernst genug nahmen, und sind dem Hoerensagen nach auf Okinawa. Das Haus steht sogar noch und ist renoviert und vermietet. Wohnungen sind zur Zeit sehr gesucht hier! Die Vertriebenen suchen ganz verzweifelt.

      Eigentlich war Kazukis Vorhaben gewesen, sich ein Jahr beurlauben zu lassen (in einem Pilotprojekt) um mit Frau und Kind Australien kennenzulernen: daraus wird jetzt natuerlich nichts. Alles ist anders und er etwas sehr schweigsam, „duester“ meinte Mariko. Er steckt in der Klemme. Soll er sich fuer die grosse Ungewissheit, den Sprung in einen fremden Erdteil entscheiden? Ohne gesicherte Verdienstaussichten? Hausmann sein? Oder sich in die Pflicht nehmen lassen, ein Jahr, zwei Jahre, bis die Lage sich beruhigt hat, und solange die Trennung von „Froh“ und „Freud“, so heissen doch seine beiden Lieben, in Kauf nehmen? Wie werden sie sich entscheiden? Auch Gai wird nicht wissen was sie ihm raten soll. Kann ihm die Entscheidung aber nicht abnehmen! Es ist nicht leicht. Trotzdem lachten wir und verbrachten ein paar angenehme Stunden miteinander bevor sich die Wege wieder trennten. Sie gingen – wir blieben.

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