Pauls Antiweichei-Plan. Eike Ruckenbrod
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Er nahm sich fest vor, seinen ganzen Mut zusammenzunehmen. Besser, als nur daheim oder mit Moritz und Jannik auf dem Spieli abzuhängen und zuzuschauen, wie diese aus purer Langeweile Schwächere quälten, vermutete er schon viel überzeugter, denn das ging ihm voll auf den Sender.
Paul erwachte aus seiner Erstarrung, setzte sich auf und griff nach der Gitarre, die neben dem Bett an der Wand lehnte. Mit geschlossenen Augen zupfte er jede einzelne Saite und stimmte sie. Fast spürte er schon seine Muskeln wachsen. Das Reißen einer Gitarrensaite ließ ihn zusammenzucken. „Shit.“ Musste das jetzt auch noch sein? Gott sei Dank hatte er noch Ersatzsaiten, sonst wäre sein Plan schon dahin. Er entfernte die alte.
Die gute Tat mit meiner Gitarre zu tun, wäre am coolsten, denn hinter der kann ich mich verstecken und muss den Leuten nicht in die Augen schauen. Wie wäre es denn, wenn ich wieder wie früher in Altenheimen vorspiele? Das wäre doch krass, das würde ich echt gern tun. … Was die Omas und Opas wohl hören wollen?, überlegte er, während er die neue einfädelte und stimmte. Schade, dass Oma Heidi nicht mehr lebt. … Dann wäre ich der Oldie-Superman. Ein Lächeln huschte über seine vollen Lippen.
Nach einer Weile legte er das Instrument aus der Hand und ging vor dem Bett auf und ab. Die Chipstüten knisterten unter seinen Schritten. Plötzlich erhellte sich sein schmales Gesicht, er legte sich auf den Boden und robbte unters Bett.
Kurz darauf erschien er mit einem Notenheft in der Hand und jeder Menge Spinnweben auf dem Kopf. Im Schneidersitz setzte er sich auf den Teppich und blätterte in dem Heft herum. Schließlich schmiss er es stöhnend von sich.
„So ’n Mist, das kann ich doch nicht spielen, lauter englisches Zeug, das checken die doch gar nicht“, brummte er vor sich hin und stand ärgerlich auf.
Ahnungsvoll warf er einen Blick in seine leere Kasse. Wütend knallte er den Deckel zu.
Soll ich das, mit dem Altersheim, wirklich tun?
Was werden wohl Jannik und Moritz dazu sagen? Die lästern sicher voll ab. Na und? Wenn ich erst mal erfolgreich bin, sind auch die geflasht. Und außerdem brauchen die es ja vorerst nicht zu erfahren.
Sein Blick wanderte abermals aus dem Fenster.
Wo kann ich jetzt sofort Kohle ziehen, für ein Notenheft mit deutschen Songs?
Fluchend ärgerte er sich mal wieder, dass er keinen Internetanschluss hatte.
Vielleicht brauchen die im Getränkehandel um die Ecke Hilfe, hoffte er, schnappte voll Tatendrang seine Jacke und den Haustürschlüssel, knallte die Tür zu und rannte die Stufen hinab.
Die Nachbarin, die einen Stock unter ihm wohnte, öffnete ihre Wohnungstür und rief ihm hinterher: „Paul, mein Guter“, wie er diese Betitelung hasste, „könntest du mir bitte ein Brot kaufen? Mein Ischias plagt mich heute wieder so arg, dass ich nicht selbst gehen kann.“
Einen Augenblick ging Paul weiter und tat so, als hätte er nichts gehört, erinnerte sich aber seiner guten Taten und antwortete: „Ja klar. Moment, ich komme.“
Rasch spurtete er die Stufen wieder hinauf.
„Ich hab leider nur einen 20-Euro-Schein.“ Frau Krieching, bekleidet mit einer Blümchenkittelschürze, schwarzen Wollstrümpfen und Filzpantoffeln, lächelte entschuldigend, dabei entblößte sie ihren zahnlosen Mund. Paul starrte ablehnend auf das nackte Zahnfleisch.
„Kein Problem. Ähm, was für eins?“
„Ein weiches, du weißt ja …“ Abermals zeigte sie ein breites Lächeln. Rasch blickte Paul zu Seite, steckte das Geld in die Tasche seiner Jeans und sprang die Stufen wieder hinab.
Assig, der Bäcker ist in der entgegengesetzten Richtung als der Getränkemarkt, ärgerte er sich und fasste in die Hosentasche. Er griff nach dem Schein.
Cooles Gefühl, stellte er fest und knetete den Schein genüsslich in den Fingern. Für zwanzig Euro könnte ich drei Hefte kaufen. Aber leider ist es nicht meine Kohle …
Mittlerweile stand er an einer belebten Kreuzung und wartete ungeduldig auf Grün. Eine alte Dame kam auf einen Stock gestützt angehumpelt.
Kaum war sie bei ihm angelangt, sprach sie ihn an:
„Hallo junger Mann, wärst du so nett, mir über die Straße zu helfen?“
Paul sah sie entgeistert an. Heute scheine ich alte Omas besonders anzuziehen. Wahrscheinlich schon die Vorboten des Oldie-Superman-Seins.
„Bitte! Ich bin nicht so gut zu Fuß“, meinte die Dame und blickte ihm durch ihre dicke Brille erwartungsvoll an.
„Ähm ja, kann ich machen“, antwortete Paul nun mit tiefer Stimme und überlegte, wie sie sich das vorstellte. Lächelnd hakte sie sich bei ihm unter.
„Das ist wirklich nett von dir, danke für deine Hilfe. Weißt du, wenn man alt ist, geht alles nicht mehr so, wie es sein sollte.“
Paul blickte der alten Dame in ihr offenes, faltiges Gesicht. Sie trug ihr graues Haar in Ohrlänge gerade abgeschnitten und nach innen geföhnt. Ihre Ponyfransen hingen ihr glatt in die Stirn.
Sie sieht nett aus, gegen die zahnlose Krieching …, stellte Paul fest. „Haben Sie keine Kinder und Enkel, die Ihnen helfen können?“, fragte er verwundert.
„Doch, aber die haben ja ihr eigenes Leben und wenig Zeit für eine alte Frau.“ Sie lächelte milde, dabei strahlte ihr ganzes Gesicht und eine Reihe gelber Zähne kam zum Vorschein. Sie erinnerte ihn an seine Oma.
Die Frau kam dank Paul heil auf der anderen Straßenseite an.
„Vielen Dank. Bei diesen hohen Gehwegkanten habe ich immer Angst, zu stürzen. Gehst du nun zu deinen Freunden Fußball spielen?“, fragte sie interessiert.
Paul schüttelte den Kopf. „Ne, ich spiele nur Gitarre.“
Die graublauen Augen der alten Dame, die hinter den dicken Brillengläsern winzig schienen, begannen zu leuchten. „Was heißt hier nur? Das ist doch was sehr Schönes, mein verstorbener Mann spielte auch Gitarre.“ Ein schmales Lächeln huschte über ihre faltigen Lippen.
Dann begann sie, einen alten Schlager zu singen.
Verlegen blickte Paul zu Boden. Plötzlich hatte er eine Idee. „Vielleicht ähm könnten Sie mir helfen, ähm ein geeignetes Notenheft für ältere Leute zu finden? Ich Honk hab nämlich keine Ahnung … und bräuchte dringend eins.“
„Gern, sehr gern, und ich habe gerade Zeit. Komm wir gehen zu Müllers Musiklädle!“ Energisch hakte sich die alte Dame wieder bei Paul unter und humpelte los.
„Wie heißt du?“
„Paul.“
„Mein Name ist Wieler. Veronika Wieler.“ Sie streckte ihm die freie Hand hin. Paul drückte sie. Die Frau schien okay zu sein.
„Meine Oma lebt leider nicht mehr.“