Sonne am Westufer. Fabian Holting
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»Ich setze mir gerne Ziele dieser Art. Suche mir einen Ort oder Gipfel aus, den ich gerne erreichen würde und dann bin ich nur schwer davon abzubringen, egal welche Mühen ich dafür auf mich nehmen muss.« Er machte eine Gedankenpause.
»Nur mein Leben bringe ich natürlich nicht in Gefahr, es darf nicht überaus gefährlich sein, so weit geht mein Eifer dann doch nicht.«
Frau Hengartner lachte.
»Keine Angst, sportliche Ambitionen verfolge ich beim Wandern auch nicht.« Sie fuhren zwischen den Stadthäusern entlang. Bessell musste auf die vielen Motorroller achten, die überall zu sein schienen. Vor ihm, manchmal sogar an seiner Seite, links wie rechts und natürlich dicht auffahrend hinter ihm.
»So, Achtung, gleich hier rechts geht es hinauf nach Orselina.« Bessell sah das Schild und blinkte. Ein Mann auf einer Vespa, direkt an der Beifahrerseite, ließ sich etwas zurückfallen, so dass Bessell abbiegen konnte. Einige enge und steile Kehren führten ein Stück hinauf auf den Berg.
»Wir müssen nicht direkt nach Orselina«, sagte Frau Hengartner, als sie das Richtungsschild sah.
»Wir bleiben auf dieser Straße.«
Auf der linken Seite, etwas unterhalb der Straße, thronte über Locarno die ockergelbe Klosterkirche Madonna del Sasso. Bessell fuhr langsamer. Sie passierten die Seilbahnstation, deren Gondeln hinauf nach Cardada gezogen wurden.
»Gleich hier vorne befindet sich ein Parkplatz, dort können wir parkieren«, sagte Frau Hengartner mit unruhigem Blick.
Es war ein kostenpflichtiger Parkplatz, eine Art Parkdeck am Berg gebaut. Bessell betätigte den Ticketknopf. Nachdem er das Ticket entnommen hatte, öffnete sich die Schranke. Es stand nur noch ein roter VW Sharan auf dem Parkdeck. Frau Hengartner stieg aus, ging zielstrebig zum Kofferraum und öffnete ihn. Hier hatte sie ihre Wanderstiefel und die dicken Socken. Sie setzte sich quer auf den Beifahrersitz, so dass ihre Beine raus hingen. Bessell war dagegen startbereit. Er stellte sich vor sie und schaute in den Himmel, der blau und wolkenlos war. Dann sah er dabei zu, wie sie sich ihre dünnen Strümpfe von den Füßen streifte. Sie hatte die Hosenbeine dafür etwas hochgezogen. Ihre Waden waren glattrasiert und leicht gebräunt. Sie hatte hübsche Füße, die genauso jung geblieben waren, wie ihre Hände. Ihre Zehnägel waren in einem dezenten rosé lackiert. Sie bemerkte, dass Bessell ihr zusah, ließ sich aber nichts anmerken. Während Bessell anfing das Wetter zu kommentieren, zog sie die dicken Socken über ihre nackten Füße bis hoch zur Kniekehle und schlüpfte anschließend in ihre Wanderstiefel aus festem Leder. Es war immer ein dankbares Thema, sich über das Wetter auszulassen. Schön würde es bleiben und mit dem Wetter heute hätten sie wirklich Glück, dozierte Bessell. Dann waren sie startbereit. Gleich nachdem sie losmarschiert waren, erläuterte Frau Hengartner die Route, die sie sich für heute vorgenommen hatte. Bessell entschloss sich, erst nach der Wanderung über ihren Mann zu sprechen. Er wollte sie auf jeden Fall fragen, ob sie eine Vorstellung davon hatte, wer ihn getötet haben könnte. Der erste Teil der Wanderung führte über einen Treppenaufgang steil und schnurgerade an wenigen Häusern vorbei und hinauf zu einem kleinen Villenvorort von Orselina. Erst von hier aus ging es auf einen richtigen Wanderweg, der uneben, aber nicht besonders steil in langen Zickzackbahnen weiter hinaufführte. Sie gingen meist schweigend nebeneinander her. Beide genossen sie die schon wärmenden Sonnenstrahlen, die sie auf der anderen Seeseite zur Zeit so schmerzlich vermissten. Gelegentlich erzählte ihm Frau Hengartner etwas über das Tessin. Sie hatte sich ganz offensichtlich eingehender mit dem Land und den Leuten beschäftigt, obwohl sie nur wenige Worte italienisch sprach. Eine bettelarme Gegend sei das Tessin früher gewesen. Der Boden brachte nur karge Ernten ein. Es wuchsen hauptsächlich Roggen, Kastanien, Kartoffeln, Mais und Wein auf der Tessiner Erde. Daneben gab es viel Viehzucht, die der Landwirtschaft oft entgegenstand, weil die Tiere die Jungpflanzen schon im Frühjahr fraßen. Das Weiderecht war in dieser Beziehung sehr freizügig gewesen. Bessell hörte ihr bedächtig zu und hielt mechanisch mit ihr Schritt. Sie hatte ein gutes Tempo drauf, das Bessell ihr nicht zugetraut hatte. An der zweiten Wegkapelle blieben sie einen Moment stehen. Die Kapellen, die Cappellatta, waren ganz klein und man konnte sie nicht begehen.
»Solche Kapellen werden wir noch häufiger zu Gesicht bekommen«, sagte Frau Hengartner und lächelte Bessell dabei über die Schulter an.
»Früher haben die Tessiner an jeder Wegkapelle ein Ave Maria gebetet. Ein alter Mann aus dem Maggiatal hat mir vor Jahren einmal erzählt, dass unterwegs gebetet wurde, damit die giftigen Schlangen und der Teufel von Engelshänden verscheucht werden. Das Arbeitsleben in den Tessiner Tälern bestand zumeist aus Heuen, Kastanien sammeln, Kartoffeln aushacken, Holz und Stroh machen und die Ernte einschaffen. Sind Sie religiös?«
Bessell verneinte die Frage und dann setzten sie ihre Wanderung fort, ohne dass Frau Hengartner ihm verraten hatte, wie sie es mit der Kirche hielt. In San Bernardo, einem kleinen Bergdorf mit wenigen Häusern machten sie auf einer Holzbank rast. Sie schwiegen und genossen jeder für sich die herrliche Aussicht. Dann gingen sie weiter, jedoch nicht mehr höher, sondern hinüber in den kleinen Ort Monte Bré, von wo aus ein kleiner steiler Geißenpfad durch den kahlen Kastanienwald wieder hinunter nach Orselina führte. Frau Hengartner ging noch schneller als beim Aufstieg. Bessell spürte schon seine Waden und ihm taten die Achillessehnen etwas weh. Der Abstieg schien unendlich lang zu sein, doch Frau Hengartner lief wie ein Duracellhase in gleichmäßigem Tempo voran. Nur gelegentlich sah sie sich zu Bessell um, der bemüht war, nur einige Schritte Abstand zu lassen. Endlich erreichten sie die Straße an der sich das Parkdeck mit ihrem Auto befand. Frau Hengartner schlug vor, ins Restaurant Funicolare zu gehen. Bessell war einverstanden. Die Wanderstiefel wollte sie anlassen, so dass sie gar nicht erst zum Auto zurück mussten. Das Restaurant war direkt gegenüber der Seilbahnstation. Als sie mit dem Auto ankamen, war es Bessell gar nicht aufgefallen.
9
Im Funicolare wurden sie von zwei Kellnerinnen begrüßt. Die eine war sehr jung, hatte brünette Haare und eine kräftige Statur. Sie stand hinter der Theke und polierte mit einem Geschirrhandtuch die Weingläser. Wenn sie mit einem Glas fertig war, hielt sie es kurz in die Luft und nahm sich dann das nächste vor. Die zweite Bedienung war schon etwas älter, Mitte fünfzig vielleicht. Sie war gertenschlank, hatte blond gefärbte Haare und musste in jungen Jahren einmal sehr hübsch gewesen sein. Sie ging auf Frau Hengartner zu, reichte ihr die Hand und brachte mit einigen netten Worten ihre Freude über ihren Besuch zum Ausdruck. Sie sprachen gleich deutsch miteinander, natürlich bis auf das obligatorische buongiorno. Anschließend nickte sie Bessell mit einem freundlichen Lächeln zu, ohne ihm jedoch die Hand zu geben. Frau Hengartner musste schon häufiger im Ristorante Funicolare verkehrt haben. Die Nachricht vom Tod ihres Mannes war ganz offenbar noch nicht bis hierher vorgedrungen. Es war auch keine Verwunderung in den Gesichtern der Kellnerinnen darüber zu erkennen, dass Frau Hengartner das Restaurant mit einem fremden Mann besuchte. Sie waren die ersten Gäste an diesem späten Nachmittag. In einem großen Kamin knisterte ein wärmendes Feuer. Die Tische mit ihren orangefarbenen Tischdecken waren bereits alle für die Abendgäste eingedeckt. Neben den gefalteten hellgelben Servietten standen geschmackvolle Stilgläser für Wasser und für Wein. Die Bestecke für mehrere Gänge lagen wohlgeordnet daneben. Gegenüber dem Kamin, ganz am anderen Ende des Raumes, war eine Fensterfront, die auf die Aussichtsterrasse hinausging. Auch vor diesen Fenstern standen eingedeckte Tische und von dort musste die Aussicht sehr schön sein.
»Wo wollen wir sitzen, direkt beim Kamin oder lieber dort vorne, wo wir die Aussicht auf den See haben«, fragte Frau Hengartner. Bessell zögerte. Der Kamin strahlte eine angenehme Wärme aus und er hatte geschwitzt, andererseits war es draußen noch hell genug, um hinauszusehen. Außerdem konnte er ihrem Gesicht ansehen, dass sie viel lieber den Tisch am Fenster nehmen würde.
»Ach,