Sonne am Westufer. Fabian Holting
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Marco Bessell las noch einmal die letzten Sätze und bewegte dann den Mauszeiger auf das Diskettensymbol unterhalb der Menüleiste. Er drückte die linke Maustaste. Dann schloss er das Textverarbeitungsprogramm, stand auf und holte seinen USB-Stick von der Anrichte. Er wollte die wenigen Seiten, die er geschrieben hatte, vorsichtshalber darauf speichern. Im kleinen Kaminofen glühten die ascheweißen Reste von zwei Buchenholzstücken. Ihm war kalt geworden. Das Zimmer ließ sich sehr schlecht heizen. In den Wintermonaten hatte der kleine Uferort fast keine Sonne. Während des Tages hatte Bessell sehnsüchtig hinüber auf die gegenüberliegende, sonnenbeschienene Uferseite geblickt. Gerne wäre er mit dem kleinen Boot seiner Vermieterin hinübergefahren, um sich dort in die Sonne zu setzen. Vielleicht wäre er dann hinauf nach Ronco gewandert und hätte sich auf die Terrasse eines der guten Restaurants gesetzt und eine Kleinigkeit gegessen. Draußen war es schon seit mindestens zwei Stunden dunkel. Jetzt Anfang Februar war der kleine Ort am Lago Maggiore wie ausgestorben. In den meisten Häusern brannte kein Licht hinter den Fensterscheiben. Ganzjährig wohnten nur noch wenige Menschen hier. Bessell sah aus dem Fenster. Der Asphalt der schmalen Straße glänzte feucht im Schein der wenigen Laternen. Gegen Abend musste ein leichter Regen eingesetzt haben. Bessell hatte es nicht mitbekommen. Im Haus direkt gegenüber brannte Licht. Auch die zwei Autos seiner Nachbarn standen etwas weiter oben in der Straße. Bessell war überrascht. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Frau Hengartner so schnell wieder im Haus nach dem Rechten sehen würde. Ihr Mann war also ebenfalls mitgekommen. Das letzte Mal war seine Nachbarin vor zwei Wochen da gewesen. Allein und nur für einige Stunden, denn seit etwa einem halben Jahr lebte sie von ihrem Mann getrennt, da sie sich von ihm scheiden lassen wollte.
Bessell hatte davon erst vor vier Wochen erfahren, als er seine Nachbarin in einem Restaurant im Nachbarort getroffen hatte. Sie war wie Bessell, ebenfalls Anfang vierzig. Auch an diesem Abend hatte sie eine gewisse Unzufriedenheit ausgestrahlt, genau wie bei den wenigen zufälligen Begegnungen vor ihrem Haus in den letzten Monaten. Sie hatte dabei jedes Mal sehr angespannt auf Bessell gewirkt. Sie war eine sehr attraktive Frau, obwohl auch an ihr die Jahre nicht spurlos vorübergegangen waren. Nach Bessells Auffassung, besaß seine Nachbarin das gewisse Etwas, das sie so anziehend machte. Vielleicht waren es ihre hübschen braunen Augen oder ihre Lippen, die voll und schön geformt waren. An jenem Abend im Restaurant hatte sie ihn nicht gleich bemerkt und so hatte Bessell sie eine Zeit lang von seinem Tisch aus beobachtet. Sie blickte die meiste Zeit über traurig und teilnahmslos vor sich hin. Nur gelegentlich, wenn die Bedienung ihr etwas brachte oder sie von anderen Gästen gegrüßt wurde, versuchte sie ihre gedrückte Stimmung mit einem Lächeln charmant zu überspielen. Sie hatte auch einige Male zu Bessell hinübergesehen, ihn aber wohl nicht gleich erkannt. Als sie ihn dann endlich bemerkt hatte, hatte sie ihm ein freundliches Lächeln geschenkt. Bessell war daraufhin aufgestanden und war an ihren Tisch getreten, um ein paar Worte mit ihr zu wechseln. Sie hatte ihm angeboten, Platz zu nehmen und so waren sie ins Gespräch gekommen. Nach einigen belanglosen Worten über das gute Essen und den leckeren Wein in diesem Restaurant, kam sie auf die Trennung von ihrem Mann zu sprechen. Bessell hatte sich über ihre Offenheit gewundert, doch vielleicht war es für sie leichter mit einem Fremden darüber zu sprechen, als mit Freunden. Das Gespräch hatte an Intensität gewonnen, nachdem Bessell ihr erzählt hatte, dass er sich ebenfalls von seiner Frau scheiden lassen wollte. Bis zu diesem Tag hatten sie sich nur als Nachbarn gekannt, die sich freundlich grüßten, wenn sie sich auf der Straße begegneten. Später auf dem Nachhauseweg hatten sie sich dann nur noch über den schönen Ort, den See und die Landschaft des Tessins unterhalten. Am nächsten Tag fuhr sie zurück nach Zürich, ohne dass sie sich noch einmal begegnet waren.
Bessell nahm seine Jacke von der Garderobe. Er zog sich seine halbhohen, mit Lammwolle gefütterten Schuhe an und ging hinaus auf die Straße. Die Tür ließ er einfach ins Schloss fallen, ohne sie abzuschließen. Wer sollte zu dieser Jahreszeit und in dieser Gegend schon auf Diebestour gehen. Der Regen fiel leise und in dünnen Tropfen vom schwarzen Himmel. Bessell setzte sich seine Wollmütze auf und versteckte seine Fäuste in den Taschen seiner Jacke. Bei seinen Nachbarn auf der gegenüberliegenden Straßenseite brannte noch immer Licht. Er drehte sich noch einmal zu ihrem Haus um. Die Umrisse seiner Nachbarin erschienen im Fenster. Als er sich abwandte, um die kleine Straße hinunter zur Hauptstraße zu gehen, hörte er durch die geschlossenen Fenster die Stimme ihres Mannes, die aggressiv und laut klang. Vermutlich stritten sie über banale und unwichtige Angelegenheiten, so wie Mann und Frau eben streiten, wenn sie einander fremd geworden waren und der unvermeidlichen Trennung entgegengingen. Das dumpfe Rattern des hell erleuchteten Zuges, dessen Gleise in nur wenigen Metern Entfernung zwischen den Häusern verliefen, mischte sich in die sonst stille Atmosphäre des Abends. Ein kurzer eindringlicher Pfiff war zu hören.
Bessell erreichte die Hauptstraße. Er ließ einen Kleinlaster und einen viel zu schnell fahrenden Porsche Carrera vorbei und ging dann hinüber auf die andere Straßenseite. Auch hier lag der kleine Ort im ruhigen Dämmerschlaf. Die Hotels und kleinen Pensionen standen noch immer mit geschlossenen Fensterläden da. Es würde noch einige Wochen dauern bis hier wieder Leben einkehrte. Auch die drei Restaurants an der Hauptstraße gönnten sich noch eine Auszeit, so dass Bessell hinüber nach San Nazzaro laufen musste. Der Regen ließ nach und über dem See waren die Wolken bereits aufgerissen und ließen einige Sterne am Firmament erscheinen. Doch ihr schwaches Flimmern verblasste im Vergleich zu den glitzernden Lichtern der Uferorte auf der gegenüberliegenden Seeseite. Die Nebelschleier hatten sich nun vollständig verzogen und alles schien zum Greifen nah zu sein. Bessell liebte diesen Anblick und konnte sich daran nicht sattsehen. Kurz vor dem Ortsausgang, auf dem immer entlang der Uferstraße verlaufenden Fußweg, konnte er einen Blick hinunter auf die kleinen Badestellen werfen. Er erahnte in der Dunkelheit, die vom Winter braun gefärbten kleinen Rasenflächen und den kiesigen Strand. Er hörte in regelmäßigen Abständen, die kalten Wellen glucksend auf dem Kiesstrand zerbrechen. Vor den kleinen Badestränden standen die niedrigen Steinhäuser mit ihren warmen pastellfarbenen Dachziegeln, die jetzt nur nass und matt im Schein der Straßenlaternen schimmerten. Ein kühler Windzug legte sich auf Bessells Gesicht. Er vergrub die Fäuste noch tiefer in seiner Jacke und zog die Schultern noch etwas höher. Im Spätsommer war er nachts hier häufiger baden gegangen. Die angenehm weiche Luft und das von vielen Sonnenstunden aufgewärmte Wasser hatten ihn dazu eingeladen. Jetzt im Winter mochte Bessell nicht daran denken, in den kalten und vom Wind gepeitschten See zu steigen und hinaus zu schwimmen. Saskia hätte sich niemals ins Wasser getraut, wäre sie dabei gewesen. Selbst im Hochsommer wäre ihr das Wasser zu kalt gewesen. Aber nicht nur hier im Tessin, sondern überall auf der Welt. Sie war sehr kälteempfindlich. Am liebsten wäre sie ein Husky, hatte sie einmal gesagt. Das Fell dieser Hunde sei so beschaffen, dass sie auch bei niedrigsten Temperaturen die Kälte nicht spürten. Saskia hatte in einer Zeitung ein Foto von einem Husky gesehen, der sich einschneien ließ und dabei sehr zufrieden aussah. Vielleicht hätte Saskia ihn im Sommer begleitet, sich ans Ufer gesetzt und ihm beim Schwimmen zugesehen. Doch wahrscheinlich wäre ihr die Zeit dafür zu kostbar gewesen. Das war wohl auch der Grund, weshalb ihre Ehe auf Dauer nicht funktionieren konnte. Ihr erschienen die Stunden, die sie gemeinsam verbrachten, im Grunde genommen immer als verlorene oder als nicht optimal genutzte Zeit. Bessell hatte oft spüren müssen, dass sie mit den Gedanken wieder bei ihren Artikeln und Recherchen war. Dass sie sich ihre Karriere im Zeitungsverlag ausmalte. Vielleicht nicht gleich am Anfang ihrer Beziehung. Bessell fragte sich, in welcher Stadt und in welchem Land Saskia sich wohl gerade aufhielt, schließlich fuhr sie dauernd in der Weltgeschichte herum. Schon komisch, dachte Bessell, da hat mir ein Mensch einmal sehr viel bedeutet und jetzt weiß ich noch nicht einmal, wo er sich gerade aufhält. Er musste an die geplante Scheidung denken, mit der sie nicht weiterkamen, weil Saskia so viel zu tun hatte. Zurzeit war es ihm egal, doch zu lange wollte er darauf nicht mehr warten.
Bessell