Frühling im Oktober. Sophie Lamé
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Er nickte nur und blickte die Straße entlang. Das sollte nun also das vielgepriesene Paris sein, dachte er. Er sah vor allem verdreckte Bürgersteige und alte Häuser, die dringend einmal wieder einen Anstrich nötig gehabt hätten. Das Trottoir war voll von Menschen und auf der Straße präsentierte sich ein wildes Durcheinander von hupenden Autos und Kleintransportern. Die beiden liefen den Boulevard Voltaire einige Meter entlang, bis Karin vor einem kleinen, baumbestandenen Carrée stehenblieb, um den Stadtplan aus ihrer Jackentasche zu ziehen.
„Irgendwo hier muss doch die Rue Sedaine beginnen“, murmelte sie und vertiefte sich in das zerknitterte Papier. Klaus setzte das Gepäck ab und blickte um sich. Er musste zugeben, dass dieser Ort ihm eigentlich ganz gut gefiel. Der Platz war an seiner längsten Seite von sechsstöckigen Häusern gesäumt, deren Fassaden in einer Farbpalette von hellbeige bis schmutziggrau variierten. Besonders auffällig fand Klaus die bodentiefen Fenster, die etwa zu einem Drittel mit einem wunderschönen schwarzen Geländer versehen waren. Im Erdgeschoss der Häuser gab es kleine Cafés, die einen Teil ihrer Einrichtung offensichtlich nach draußen verlagert hatten, denn Tische und Stühle standen in fast ordentlichen Reihen auf dem Bürgersteig. Die Stühle waren allesamt so ausgerichtet, dass jeder, der sich darauf niederließ, seinen Blick auf die Straße und die Geschehnisse auf dem Platz richten konnte. Und damit auch auf den Zeitungskiosk, der nicht weit vom Eingang der Metrostation zu sehen war. Allerdings keine schäbige graue Bude, wie er sie aus Frankfurt kannte. Nein. Was Klaus hier sah, war ein kleines Kunstwerk. Das gusseiserne Material war in einem dunklen Grünton gehalten und dort, wo das Dach begann, zog sich eine Verzierung – ähnlich wie der Abschluss eines hochherrschaftlichen Gartentores – rundherum. Damit nicht genug, thronte obenauf eine mit gusseisernen Schindeln verzierte Kuppel. Tageszeitungen und Magazine stapelten sich zu beiden Seiten des Verkaufstresens und luden zum Stöbern – und unter den strengen Blicken des Zeitungsverkäufers, der im hinteren Teil des kleinen Gebäudes schemenhaft im Halbdunkel auszumachen war – gewiss auch zum Kaufen ein. Nicht weit davon stand eine braune, abgewetzte Bank unter einem blühenden Lindenbaum, gleichsam als Einladung, sich hier zum Lesen niederzulassen. Die Bank gefiel Klaus, besonders weil sie zu beiden Seiten der Lehne eine Sitzfläche hatte. Den beiden Alten, die in diesem Augenblick darauf saßen, erlaubte das, sich nach einem ausgiebigen Schwätzchen wieder jeder in seine Richtung zu drehen und alleine den Gedanken nachzuhängen.
„Klaus?“ Karin zupfte ihn am Ärmel seines Cordjacketts. „Komm, lass uns unser Hotel suchen, laut Plan muss die Rue Sedaine gleich da vorne links sein, hier entlang!“
Sie packte ihre Tasche und warf Klaus einen gleichzeitig forschenden und zufriedenen Blick zu. „Du siehst aus, als hättest du gerade den Weihnachtsmann gesehen. Es ist herrlich hier, nicht wahr?“ Sie gab ihm einen freundschaftlichen Rempler mit der Schulter. „Ich hatte schon Bedenken, dass es dir nicht gefällt.“
Klaus wollte ihr antworten, aber Karin war mit den für sie so typischen weitausholenden Schritten bereits vorausgeeilt. Ohne stehen zu bleiben, sah sie über ihre Schulter und rief lachend: „Ich dachte schon, ich müsste dich wieder nach Hause schicken und alleine hier bleiben!“
FÜNF
Frankfurt am Main. Montag, 27. Juni 2011
„Entschuldigung.“ Die Frau, deren Arm Mike aus Versehen mit seiner Laptoptasche gestreift hatte, schien ihn nicht einmal wahrzunehmen. Sie hielt den Kopf gesenkt und hastete wortlos an ihm vorüber. Doch er hatte ihr Schluchzen gehört und es hatte ihn berührt und auf wundersame Weise auch getröstet. Es war nur ein Moment gewesen. Eine Sekunde in der Abenddämmerung, mitten im Frankfurter Stadtteil Sachsenhausen. Es war nicht recht, so zu denken, doch mit einem Mal fühlte er sich nicht mehr so alleine in seiner Trauer. Auch andere Menschen wurden verletzt und verlassen. Vielleicht bogen auch sie an einer der vielen Lebenskreuzungen einfach nur falsch ab. War nicht eigentlich alles im Leben der Willkür des Zufalls überlassen? Warum hatte Nicola unbedingt diesem Typen über den Weg laufen müssen? War auch das nichts als ein dummer Zufall gewesen? Oder hatte er selbst sie in die Arme eines Anderen getrieben? Er wusste es nicht. Und er wollte sich auch gar nicht damit auseinandersetzen. Irgendwann vielleicht, heute nicht. Nachdenklich ging er auf die Nr. 7 zu. Er kramte seinen Schlüssel aus der Tasche und knipste die Außenbeleuchtung an. Bevor er die Tür aufschloss, drehte er sich um und starrte auf die dämmrige Straße, deren regennasser Asphalt silbern glänzte. Dort hinten war sie ihm entgegengekommen, die unbekannte Frau. Ihre klappernden Schritte längst verhallt und ihr Schatten hinter einer der Hofeinfahrten verschwunden. Schade! Aber vielleicht würde er sie einmal wiedersehen. Er fühlte sich von ihr angezogen und auf eigenartige Weise verbunden. Ach vergiss es, schalt er sich selbst und schüttelte den Kopf, um die Gedanken zu verscheuchen. Bist du jetzt schon so einsam und verzweifelt, dass du in jeder verheulten Frau, die dir begegnet, eine Seelenverwandte siehst? „Jetzt mach aber mal halblang, Junge. Schluss damit!“ Er schloss die Tür zu seinem Haus auf und zuckte zusammen. „N´Abend“, schnarrte eine tiefe Stimme hinter seinem Rücken. Ob der Fremde wohl seine letzten Worte gehört hatte? Wie peinlich. „Hallo“, sagte Mike, ohne sich herumzudrehen, und beeilte sich in seine Wohnung zu kommen. „Reiß dich zusammen. Verfluchte Gefühlsduselei!“, murmelte er. Die Zukunft sah doch gar nicht so übel aus. Der Auftrag vom Adventure-Verlag war ihm sicher und im nächsten Monat würde diese Straße mit ihren altertümlichen Laternen Vergangenheit sein. Entschlossen trat er in seine Wohnung und schloss die Tür von innen ab. Eine kurze Minute verharrte er im Flur. Sollte er sich noch etwas zu essen machen? Doch außer Nudeln und einem halben Dutzend Saucen verschiedener Geschmacksrichtungen hatte er nichts im Haus. Eigentlich liebte er diese künstlich schmeckenden Fertigprodukte, doch heute bereitete ihm schon der Gedanke daran Übelkeit. Er ging ins Wohnzimmer und setzte sich in seinen Lieblingssessel. Schreibersessel hatte Nicola ihn immer genannt. Hier kamen ihm die besten Einfälle für neue Geschichten. Hier konnte er kreativ sein und seinen Gedanken Raum geben. Oft hatte Nicola sich ein Glas Rotwein aus der Küche geholt, sich einige Minuten auf die Lehne gesetzt und ihre Füße unter seine Oberschenkel gekuschelt. Er hatte ihren Arm gestreichelt und diesen Augenblick genossen. Aber jetzt saß er alleine hier, in der Dämmerung, und versuchte sich wieder einmal zu erklären, warum alles so gekommen war. Doch heute Abend war etwas anders. Mike wollte sich nicht mehr auf Grübeleien einlassen. Etwas in ihm sperrte sich dagegen. Er hatte einfach keine Lust, schon wieder einen traurigen Abend zu verbringen. Ich habe mein Selbstmitleid schon richtig genossen, musste er erstaunt zugeben. Aber heute war etwas mit ihm geschehen und es widerstrebte ihm geradezu, sich selbst noch länger zu bedauern. Stundenlang hatte er sich in den letzten Wochen damit beschäftigt und als er nun so darüber nachdachte, schämte und ärgerte er sich über sein Verhalten. Aber jedes Gefühl hat eben seine Zeit, dachte er und musste gleich darauf schmunzeln. Wo hatte er das wohl gelesen? Wahrscheinlich in einer dieser Ratgeber-Kolumnen in einer Zeitschrift bei seinem letzten Besuch beim Zahnarzt. Aber es ist etwas Wahres dran, dachte Mike, und nun ist die Zeit für Selbstmitleid und trübe Gedanken vorbei. Der Auftrag für die Reportage sollte ihn tatsächlich nach Paris führen. Es stand eine ganze Menge Recherchearbeit an und er freute sich darauf, endlich wieder schreiben zu können. Schon meldeten sich leise Zweifel, die ihn wie kleine Nadelstiche direkt hinter den Augen pieksten. Für den Bruchteil einer Sekunde wurde ihm ein wenig flau. Die Gedanken der Vorfreude waren mit einem Mal aus seinem Gehirn verschwunden, als hätte sie jemand dort herausgeangelt wie aus einem Fischteich. Und wenn ich es nicht schaffe? Wenn ich versage? Wie besessen sausten die beiden Sätze durch seinen Kopf, verhakten sich ineinander, bevor sie wieder auseinander stoben und gegenseitig Jagd aufeinander machten. Ich muss wieder einen klaren Kopf bekommen, dachte Mike und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Mit einem entschlossenen Ruck erhob er sich von seinem Sessel und ging in die Küche, um sein Weinregal zu inspizieren. Ah, ja, da lag noch ein schöner Merlot, den er zu seinem letzten Geburtstag bekommen hatte. Er stellte die Flasche auf die Ablage und zog mit der linken Hand einen Öffner aus der Schublade. Mike goss sich eines der schweren Weingläser aus dickem, hellgrünem Glas bis zur Mitte voll und schnupperte an der dunkelroten Flüssigkeit. Sie roch köstlich. Kurz darauf musste er laut lachen, denn er hatte gerade an seinen Freund Benny gedacht,