Frühling im Oktober. Sophie Lamé
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Ihre eleganten schwarzen Schuhe klapperten eilig über wunderschön aufgearbeitetes altes Parkett und Mike bemühte sich, mit ihr Schritt zu halten. Schließlich blieb sie vor einer weißen Flügeltür stehen, klopfte kurz an und bereits im nächsten Moment nickte sie Mike zu und streckte ihren Arm in seine Richtung aus. „Bitte sehr, treten Sie ein.“
Der Anblick des riesigen Büros verschlug Mike die Sprache. Der Raum maß mindestens 40 Quadratmeter und wurde von einem gigantischen, modernen Schreibtisch aus weiß lackiertem Holz mit einer Platte aus grünlich schimmerndem Milchglas dominiert. Große, bodentiefe Fenster ließen viel Licht herein und gestatteten den Blick auf die Bäume eines kleinen Innenhofes. Eingerahmt wurden die herrschaftlichen Fenster von schweren cremefarbenen Brokatvorhängen, deren Muster die bourbonische Lilie in verschiedenen Goldtönen darstellte. Edle Orientteppiche in gedeckten Farben bedeckten den Parkettboden und an den Wänden fanden sich zeitgenössische Bilder in schweren, altmodischen Rahmen. Ein Kristalllüster gewaltigen Ausmaßes hing von der stuckverzierten Decke herab. Ansonsten war der Raum leer.
Mike riss sich zusammen und steuerte auf den Schreibtisch zu, hinter dem sich nun ein kleiner, drahtiger Mann um die 50 aus einem tiefen Bürostuhl aus weißem Leder erhob.
„Sie müssen Michael Brinkmann sein“, rief er aus und streckte ihm die Hand über die Breite des Tisches entgegen. „Bitte, setzen Sie sich doch.“
Mike ließ sich etwas umständlich auf dem bequemen Besuchersessel nieder. Keine Frage, er war nervös. Aber der Chef der „Éditions Adventure“ war ihm auf Anhieb sympathisch und so verlor sich seine Aufregung schnell. Er strengte sich an, jedes Wort dessen zu verstehen, was Monsieur Lussac ihm nun zu erzählen begann.
Etwa eine halbe Stunde später kannte er den Inhalt seines Auftrages. Er sollte einen Artikel über den großen Pariser Friedhof Père Lachaise schreiben. Allerdings nicht über die berühmten Menschen, die dort lagen.
„Nein“, redete sich Monsieur Lussac in Rage, „Jim Morrison, Balzac, Isadora Duncan und die Callas, pff, deren Geschichten kennt doch jeder. Tausende Touristen pilgern jährlich zu den Gräbern dieser prominenten Friedhofsbewohner. Doch was ist mit den anderen? Achtlos gehen die Besucher vorbei an all den normalen Menschen, die ein Leben lang geschuftet und vielleicht sogar weltbewegende Dinge getan haben. Bewegend zumindest für ihre eigene, kleine Welt. Brave Bürger, die Revolutionen, Wirtschaftskrisen, Kriege, große Ereignisse und kleine Begebenheiten erlebt haben.“ Aufgeregt rutschte er auf seinem Ledersessel hin und her. „Niemand bleibt am Grab des Handwerkers stehen, der die allerletzte Stahlstrebe des Eiffelturms am 31. März 1889 verankerte – und wen interessiert schon das Grab der Dame, die im Jahre 1895 ihre Stelle als Assistentin von Hector Guimard antrat, dem berühmten Architekten und Schöpfer der kunstvollen Metroschilder, die noch heute so manchen Eingang der Stationen zieren. Aber“, schnaufte Lussac zufrieden, „das wird sich nun ändern. Sie sind bekannt für Ihre Recherchekünste. Wenn jemand solche Geschichten auftun kann, dann Sie.“ Erwartungsvoll richtete er seine Augen auf Mike. „Sind Sie dabei?“
Es war bereits dämmrig, als Mike aus dem herrschaftlichen Haus trat und sich auf dem Gehweg den Schal fester um den Hals zog. Im Vergleich zum Nachmittag war die Straße nun noch stärker befahren. Autos hupten und Busse rauschten in halsbrecherischer Geschwindigkeit auf der extra für sie reservierten Spur heran. Dazwischen tummelten sich Motorradfahrer, Radler und einige offensichtlich lebensmüde Fußgänger, die versuchten, fernab der Ampeln über die verstopften Fahrspuren auf die andere Straßenseite zu gelangen. Er überlegte kurz. Heute war er zu müde, um sich noch in eines seiner Lieblingsbistros zu setzen. Aber gleich morgen früh würde er nach Passy fahren und dort seinen ersten Arbeitstag in Paris mit einem Café Crème beginnen. Er liebte dieses Viertel im 16. Arrondissement. Während seiner Studienzeit hatte er ein halbes Jahr dort gelebt, bei stundenlangen Spaziergängen erkundet und bestens kennengelernt. Passy hatte den Ruf, eine der versnobtesten und großbürgerlichsten Gegenden der Metropole zu sein. Und natürlich gab es dort einige sehr teure Läden. Die Straßen waren baumbestanden und von gepflegten Stadthäusern gesäumt, in denen es Wohnungen gab, die von einem Normalsterblichen kaum zu bezahlen waren. Aber es gab auch kleine Gässchen mit engen Bürgersteigen, auf die die Bistrobesitzer klapprige, korbbespannte Holzstühle setzten und alte Lädchen, in denen Gemüse angeboten wurde, das aussah, als hätte es der Ladenbesitzer noch am Morgen selbst aus der Erde gezogen. Betrat man die Markthalle am Beginn der Rue Duban, war man mitten drin im Pariser Leben, im Mikrokosmos des Stadtviertels, wo sich die Händler und ihre Kunden zum Teil sogar mit Namen kannten. Mit einem Mal wurde Mike bewusst, dass das, woran er gerade dachte, greifbare Realität war. Er war tatsächlich und wahrhaftig in Paris. Und er hatte das Glück, diese Stadt eine ganze Weile genießen zu können. Mit all ihren Gerüchen, ihren Geräuschen, ihren Besonderheiten und ihren Menschen. Und er würde einen Artikel schreiben, einen richtig guten Artikel, jawohl! Inzwischen war er schon ein Stück die Rue de Rennes hinuntergelaufen und meinte bereits eine Metrostation aus der Ferne zu erkennen, als er es sich noch einmal anders überlegte. Er hatte Lust bekommen, mit dem Bus zu fahren, um die Stadt an sich vorbeiziehen zu sehen. Ein paar Schritte vor sich sah er eine Haltestelle und auf diese steuerte er nun zu, um zu sehen, welche Buslinien hier anhielten. Ah ja, die 68, perfekt. Diese Linie fuhr in Richtung Opéra, das passte wunderbar. Mike musste nur einige Minuten warten, bis der grünweiße Bus ein paar Meter vor ihm zum Stehen kam. Er kramte ein Metroticket aus seiner Hosentasche, entwertete es in dem kleinen Automaten direkt an der Fahrerkabine und suchte sich einen freien Platz am Fenster. Er liebte es, sich in Paris mit den Stadtbussen fortzubewegen. Einige von ihnen befuhren wunderbar abwechslungsreiche Routen, vorbei an zahllosen Sehenswürdigkeiten, über breite Boulevards und vorbei am echten Pariser Leben. Aber Mike mochte nicht nur die Aussicht durch die Scheibe des Busfensters, auch die Passagiere faszinierten ihn. Gerade hatte eine alte Dame auf dem Sitz gegenüber Platz genommen. Alles an ihr wirkte edel. Die silbergrauen Haare waren zu einer perfekten Frisur zusammengesteckt und umrahmten ein ehemals wunderschönes Gesicht. Sie hatte einen Koffer bei sich und schaute mit nachdenklichen, fast traurigen Augen aus dem Fenster. Weder der ruppige Fahrstil noch das von wütendem Hupen begleitete Fluchen des Busfahrers konnten ihr eine Regung entlocken. Sie schaute bloß ins Leere. Woran sie wohl dachte? Mike lehnte sich gemütlich zurück, schaute in die dunkler werdende Stadt hinaus und ließ die Geschichte Gestalt annehmen.
Vielleicht war sie in ihrer Jugend in Paris Mannequin gewesen, und kam nun nach 60 Jahren zum ersten Mal wieder zurück. Sie war auf dem Weg zu ihrer Tochter, die sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Gerne würde sie sich heute einreden, dass sie es sich wahrlich nicht leicht gemacht hatte, damals, als sie ihr Neugeborenes in die Obhut ihrer Schwester gegeben hatte. Aber nein, so war es nicht gewesen. Viel zu beeindruckt war sie zu jener Zeit von der glitzernden Welt der Mode, den Fotografen und dem Rummel um ihre Person. Und als sie dachte, sie hätte in Romain ihre große Liebe gefunden, hatte sie seinen Liebesschwüren nur zu gerne geglaubt. Der Krieg war vorbei, das Leben schön und verheißungsvoll. Die Konsequenzen einer Nacht mit Romain – im edlen Hotelzimmer und im seidigen Bett – hatte sie nicht bedacht. Oder war es ihr egal gewesen? Sie wusste es nicht mehr. Die Schwester, selbst ungewollt kinderlos und eine treue Seele, nahm das Kind gerne an. Und seit dem Tag, als sie die Kleine in die Arme von Therèse gelegt hatte, hatte sie versucht, sie zu vergessen. Eine Zeitlang war ihr das gut gelungen, aber eines Tages hatte sich das Gewicht ihrer Tat auf ihre Seele gelegt wie ein nasses, schweres Tuch. Und nun, da sie sicher war, dass der Krebs sie nicht mehr lange würde am Leben lassen, wollte sie ihre Tochter noch einmal sehen. Aus der Ferne vielleicht, sie wusste es noch nicht. Sie hatte herausgefunden, wo Chloé wohnte und sich ein Hotelzimmer ganz in ihrer Nähe genommen. Und nun saß sie in diesem Bus der Linie 68 und würde an der Station Palais Royal aussteigen. Und dann … Man würde sehen …
Als Mike den Kopf vom Fenster wandte, musste er feststellen, dass die Dame bereits ausgestiegen war. Nun gut, dann also nicht „Palais Royal“. Er lächelte und drückte auf den roten Knopf, der in Augenhöhe an der Stange vor ihm angebracht war. Der Bus steuerte die nächste Haltestelle an und Mike sprang direkt vor dem Operngebäude auf den Bürgersteig.