Frühling im Oktober. Sophie Lamé
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Frühling im Oktober - Sophie Lamé страница 11
Aber dies hier war keine Vorabend-Soap, sondern Realität. Und als Clemens nach einer gefühlten Ewigkeit den Kopf hob, sah Helen in seine Augen und machte sich innerlich bereit für sein Abschiedsplädoyer. Das nicht kam. Er stand schweigend auf, wobei er die Serviette erst fein säuberlich faltete und dann neben dem Teller platzierte.
Er sah sie an und murmelte: „Vergiss es.“
Er will doch jetzt nicht einfach so gehen, dachte Helen. Mich hier sitzen lassen wie eine abservierte Affäre? Aber das tat er nicht. Nicht sofort jedenfalls. Bevor er kerzengerade und offensichtlich völlig ungerührt zwischen den Tischen hindurch auf den Ausgang zusteuerte, warf er ihr noch einen letzten Satz hinüber.
„Du bist gar nicht fähig, jemanden zu lieben, weißt du das eigentlich?“
Helens Augen wurden groß und hefteten sich auf Clemens Rücken, der sich langsam entfernte, bis er schließlich nicht mehr zu sehen war.
„Pfff“, stieß sie hörbar Luft aus und dachte: Das ist ja wohl nicht dein Ernst, mein Lieber. Wer ergreift denn hier die Flucht und wirft gleich die Flinte ins Korn? Mhm? Ich? Du bist es doch, dem die Beziehung anscheinend nicht wichtig genug ist, um es wenigstens einmal zu versuchen. Vor Wut schlug sie mit der Faust auf den Tisch und griff dann entschlossen zur Weinflasche. Sie würde sich von diesem Schlappschwanz nicht ihre große Chance vermiesen lassen. Sie warf den Kopf in den Nacken und richtete ihren Blick herausfordernd auf die Menschen um sie herum. Doch auf einmal bemerkte sie, dass sich ein leichter Schleier vor ihren Augen bildete und noch bevor sie es richtig begriffen hatte, fühlte sie die erste Träne ihre Wange hinunterlaufen. Und während sie auf die Brotkrümel auf dem verlassenen Platz ihr gegenüber starrte, hallte der letzte Satz von Clemens, dieser eine Satz, wie in einer Endlosschleife durch ihre verworrenen Gedanken.
„Du bist nicht fähig, jemanden zu lieben.“
Und mitten zwischen den lachenden und Pasta essenden Menschen merkte sie, wie ihr die Tränen übers Gesicht liefen. Still und fast unbemerkt. Kein Schluchzer schüttelte ihren Körper, kein Ton kam über ihre Lippen. Aber eine unendliche Traurigkeit schien direkt aus ihrer Seele durch ihre Augen zu fließen. Was, wenn er recht hatte?
SIEBEN
Paris. Donnerstag, 15. September 2011
In der Rue de Rennes herrschte Hochbetrieb. Die Menschen auf den Bürgersteigen waren alle in größter Eile. Als seien sie auf der Flucht vor einer unsichtbaren Gefahr, dachte Mike. Und wahrscheinlich waren sie doch nur auf dem Weg zu einer Verabredung, zurück zum Büro oder passten sich einfach nur dem Strom an, der sich an diesem regnerischen Vormittag durch eine der geschäftigsten Straßen des 5. Arrondissements schlängelte. Mike verlangsamte seine Schritte und wurde sogleich von einem hinter ihm laufenden Herrn angerempelt. „Pardon“, murmelte er und Mike beeilte sich, diese in Paris so verbreitete Entschuldigung zu erwidern. Selten hatte er eine Stadt erlebt, in der man sich so oft entschuldigte. Wenn man in den langen Metrogängen die Kurve zu scharf nahm und unversehens ein fremdes erschrockenes Gesicht vor sich hatte. Wenn man durch die Tür eines Geschäftes ging, durch die ein anderer entgegenkam. Oder eben, wenn man jemanden auf den Bürgersteigen der Großstadt anrempelte. „Pardon.“ Diesmal war das so häufig benutze Wörtchen von einem leicht genervten Blick einer Passantin begleitet, die sich an Mike vorbeischlängelte. Er war in Gedanken versunken gewesen und hatte gar nicht bemerkt, dass er stehengeblieben war. Er machte einen Schritt zur Seite und blickte der jungen Frau nach. Paris! Wie er diese Stadt liebte! Gerne wäre er noch ein wenig herumgeschlendert, aber sein Auftraggeber wartete. Er zog seinen dunkelgrauen Baumwollschal zurecht und wandte sich dem Haus zu, vor dem er stand. „Wo ist denn hier die Hausnummer?“, murmelte er und entdeckte schließlich ein grün umrahmtes Schild mit einer weißen 143 auf blauem Untergrund. Dann musste es also gleich nebenan sein. Ja, da war der Eingang und links davon entdeckte er auch schon ein blank poliertes Messingschild mit der Aufschrift „Éditions Adventure“. Klingelknöpfe waren keine zu sehen, dafür ein viereckiges Zahlenfeld – sicher für den Türcode. Direkt darunter befand sich ein Knopf, auf den Mike nach kurzem Zögern drückte. Ein Summen, gefolgt von einem kurzen Knacken, und die Tür ließ sich öffnen. Mike trat in einen großzügig angelegten Hausflur, der von einer trüben, alten Lampe mit fast blinden Glasflächen in einer rostigen Einfassung erhellt wurde. Der Boden schien aus Marmor zu sein und am Ende des Ganges konnte er schemenhaft eine breite Treppe erkennen, deren Stufen mit einem dunkelrot gemusterten Teppich belegt waren. Er wollte schon darauf zugehen, als sich neben ihm eine verspiegelte Tür öffnete, die ihm gar nicht aufgefallen war.
„Bonjour Monsieur.“
Eine ältere Dame schlurfte auf Hausschuhen auf ihn zu und beäugte ihn interessiert. Ihre Haare wurden von einem wild gemusterten Samtband zusammengehalten und über ihrer ebenso bunten Kittelschürze trug sie eine dicke, wollene Strickjacke. Eine ausgeleierte Baumwollhose komplettierte ihr eigenwilliges Outfit.
„Kann ich Ihnen helfen?“
„Bonjour Madame, ich suche die Büros des Adventure-Verlages“, antwortete Mike, nachdem er sich kurz gesammelt hatte. Seine Französischkenntnisse waren ein wenig eingerostet und er musste erst nach den passenden Worten suchen. Aber die Concierge verstand ihn auf Anhieb und schickte ihn mit einer kurzen Kopfbewegung zum Treppenaufgang.
„Dritter Stock, die Tür auf der linken Seite. Es gibt auch einen Aufzug, gleich neben der Treppe“, rief sie ihm hinterher.
Mike bedankte sich und lief in die angegebene Richtung. „Ich nehme lieber den Fahrstuhl“, murmelte er in seinen Schal. Bei seinem momentanen Fitnesszustand käme er bestimmt laut schnaufend im dritten Stock an. Japsend nach Luft schnappend und mit Schweißperlen auf der Stirn vor dem Verlagschef zu sitzen – er konnte sich Besseres vorstellen. Schwungvoll öffnete er die Aufzugtür und starrte kurz darauf entgeistert in die erleuchtete Kabine. Da passe ich nie hinein, war Mikes erster Gedanke.
„Allez-y, allez-y“, tönte die Stimme der Concierge, die sein Zögern wohl bemerkt haben musste, vom Ende des Flures. „Der sieht nur so klein aus, aber wenn man erst einmal drin ist, geht es schon.“ Sie lachte leise und war kurz darauf hinter der verspiegelten Tür ihrer Hausmeisterwohnung verschwunden.
„Na, wenn das so ist“, rief Mike in den inzwischen verlassenen Hausflur hinein und machte einen Schritt nach vorne. Ob er lieber gleich rückwärts hineinlaufen sollte? Umdrehen konnte man sich in diesem Miniaturaufzug bestimmt nicht. Er entschied sich für seitwärts und drückte entschlossen den weißen Knopf mit einer verschnörkelten, goldfarbenen 3 darauf. Ruckelnd schlossen sich die Türen und mit einem schleifenden Geräusch setzte sich der Aufzug in Bewegung. Am Ziel angekommen, suchte Mike auf dem eleganten Flur die Tür zu den Räumen des Verlages. Kaum hatte er auf den Klingelknopf gedrückt, wurde ihm auch schon geöffnet. Eine kleine zierliche Dame von etwa 60 Jahren erschien in seinem Blickfeld. Sie trug ein schlichtes, graues Kostüm, dem ein Hermès-Schal ein wenig Lebendigkeit verlieh. Ihre schwarz umrandete Brille hatte sie in die von grauen Strähnen durchzogenen Haare geschoben und streckte ihm eine schmale Hand entgegen, die eine elegante goldene Uhr zierte.
„Ich bin Madame Junot“, sagte sie mit leiser, aber energischer Stimme. „Ich bin die Assistentin von Monsieur Lussac. Herzlich willkommen bei Adventure. Monsieur erwartet Sie schon, ich werde Sie in sein Büro