Frühling im Oktober. Sophie Lamé
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Читать онлайн книгу Frühling im Oktober - Sophie Lamé страница 14
„Es gefiel ihm, wie versunken ich vor dem Bild “BlancBleu“ gestanden habe, stell dir vor. Weißt du, was er zu mir gesagt hat? Endlich einmal ein Mensch, der sich wirklich für die Kunst interessiert und nicht auf dieser Vernissage ist, um ein neues Designerkleid mit dazu passendem Täschchen auszuführen. Wir haben Champagner getrunken und irgendwann gestand er mir, dass er diese Seite des Ruhmes schon immer hasst. Die Horden der selbsternannten Kunstkenner, die sich nur zu gerne um ihn scharten, oberflächliche Freunde, die ihn nicht kannten und seine Filme wahrscheinlich nicht besonders mochten. Aber er war berühmt und das zählte für diese Leute. Er durfte sich für die vergängliche Phase seiner Bekanntheit ihrer Allgegenwart sicher sein. Wenn dann sein Stern als Regisseur verblasste, würden sie ihn in der Dämmerung zurücklassen und von der nächstbesten Berühmtheit angezogen werden, wie die Motten von einem hellen Lichtkegel in dunkler Nacht.“
„Das hat er gesagt? Sehr poetisch“, staunte Helen.
„Es kommt noch besser!“ Vor Aufregung sprudelten die Worte nur so aus Lilis Mund und Helen bemühte sich, dem Redefluss zu folgen.
„Er erzählte, dass er sich auf diese Vernissage bei Bernard ehrlich gefreut hat. Er meinte, der Galerist hätte ein Auge für aufstrebende Künstler und eine Ausstellung bei ihm sei immer ein inspirierendes Erlebnis. Und dann sah er mich.“ Lilis Stimme überschlug sich fast, als sie Merciers Worte wiederholte: „Sie standen dort, vor “BlancBleu“ und hatten die Welt um sich herum vergessen. Wie wohltuend echt in dieser Umgebung.“
„Wow!“ Helen nahm ihre Kaffeetasse in beide Hände und lehnte sich an das bequeme Polster an.
„Warte, warte!“ Lili sah sie beschwörend an. „Jetzt kommt es erst. Wir haben ein bisschen über Kunst geredet und als ich ihm schließlich erzählte, dass ich Drehbücher schreibe, hat er mich gebeten, ihm eines meiner Werke zu schicken. Meiner Werke, stell dir doch nur mal vor, das hat er tatsächlich gesagt.“
Helen war einen Moment sprachlos. Dann umarmte sie Lili und bat sie, noch ein wenig mehr über diesen spannenden Abend zu berichten. Denn ihr war nicht entgangen, wie die Augen ihrer Freundin gefunkelt hatten und sie ahnte, dass Lilis Interesse an diesem Mann nicht nur beruflicher Natur war. Sie führte ihre Kaffeetasse zum Mund, während Lili aufgeregt plapperte. Sie starrte in die braun-milchige Flüssigkeit und plötzlich nahm sie Lilis Worte wie aus weiter Ferne wahr. Ihre Gedanken schweiften ab. Sie sah sich wieder mit Clemens im Restaurant Zahara in Frankfurt sitzen. Seine verletzende Tirade hatte sich in ihr Gedächtnis eingebrannt wie ein hässliches Tattoo, und immer öfter kamen die Worte an die Oberfläche und hallten in ihrem Kopf wider wie ein ewiges Mantra. Warum sie wohl gerade jetzt wieder an seine Vorwürfe denken musste? Lilis verliebter Blick musste der Auslöser gewesen sein. Du bist nicht fähig, jemanden zu lieben. Das hatte Clemens gesagt und sie mit einer Mischung aus Wut, Mitleid und unverhohlener Abscheu angesehen.
„Was ist denn los, ma belle“, holte sie Lilis Stimme wieder ins Tabac de la Muette zurück. „Rede ich zuviel?“
Sie lachte und Helen wandte ihr das Gesicht zu.
„Mon Dieu, Helen, was hast du denn? Du weinst ja?“ Lili starrte sie sekundenlang aus erschrockenen Augen an und kramte schließlich ein Kleenex aus ihrer überdimensionalen Ledertasche. „Wenn mein Geschwätz bewirkt, dass du dich in Tränen auflöst, halte ich zukünftig wohl besser den Mund.“
Lili machte ein so zerknirschtes Gesicht, dass Helen unweigerlich grinsen musste.
„Um Gottes Willen, nein“, sagte sie, „was wäre ich nur ohne dich und deine Geschichten.“
„Na, ja“, erwiderte Lili mit einem leisen Lächeln, „im Moment zumindest wärst du nicht so verheult und das Mascara säße auf deinen Wimpern und nicht unter den Augen.“
„So schlimm?“, fragte Helen. Ohne eine Antwort abzuwarten, zog sie ihren hellbraunen Lambswoolpulli zurecht und quetschte sich mühsam zwischen Sitzbank und Bistrotisch hindurch. Mit gesenktem Kopf huschte sie durch den Raum, denn sie hatte nicht vor, allzu viel von ihrem Gesicht zu zeigen. Mit großen Schritten eilte sie an der Theke vorbei und hörte nicht, dass Anatole ihr etwas zurief. Erst einmal wieder auf die Reihe kommen, ermahnte sich Helen und fixierte die Treppenstufen, die sich schmal und eng in das Untergeschoss des Bistros schlängelten. Das ist das Einzige, was ich am Tabac de la Muette nicht leiden kann, dachte sie und stützte sich mit der rechten Hand an der Wand ab, da sie die Stufen vor ihren Füßen kaum noch erkennen konnte. So dunkel war es doch sonst nicht hier unten. Jetzt ging ihr auf, was Anatole ihr gerade zugerufen hatte. Wahrscheinlich war das Licht kaputt und er hatte sie warnen wollen. Vorsichtig tastete sie sich weiter vorwärts. Wenigstens kann so niemand mein verschmiertes Gesicht sehen. Ein paar Stufen noch und dann müsste doch bald – „huaaa, was zum Teufel …!“ Helen stieß einen spitzen Schrei aus und machte einen Satz zurück auf die Stufe hinter ihr. Dabei geriet sie ins Taumeln und suchte Halt an der Wand und an dem Widerstand, der sich so plötzlich vor ihr aufgepflanzt und sie zu Tode erschreckt hatte. Zwei Hände hielten sie an den Armen fest, so dass sie langsam wieder ins Gleichgewicht kam.
„Pardon, Madame, ich habe sie nicht gesehen“, kam eine sanfte, melodische Stimme aus der Dunkelheit. „Tut mir wirklich sehr leid, pardon. Das ist aber auch düster hier.“
So gut es auf der schmalen und dunklen Treppe eben ging, schob sich eine Gestalt an ihr vorbei und stieg langsam und vorsichtig die Stufen hinauf. Zurück blieb ein schwacher Duft nach einem herben Rasierwasser und der langsam nachlassende Druck kräftiger Hände auf ihren Armen. Das nenne ich eine Begegnung der besonderen Art, dachte Helen und ertastete sich die letzten Meter bis zur Toilettentür. Zum Glück war sie schon oft hier unten gewesen, und wusste, dass sich die Damentoilette hinter der ersten Tür rechts befand. Sie suchte ein paar Sekunden lang vergebens nach der Türklinke, fand sie schließlich und schlüpfte in den Raum. Glücklicherweise war das Licht nur auf der Treppe und in dem langen Kellergang kaputt. Hier drinnen funktionierte die Beleuchtung und Helen stieß einen langen, erleichterten Seufzer aus. Schnell prüfte sie ihr Aussehen im Spiegel, zupfte sich zwei Papierhandtücher aus der dafür vorgesehenen Box und wischte die schwarzen Mascaraflecken unter ihren Augen weg. Zuletzt spritzte sie sich ein paar Tropfen eiskaltes Wasser ins Gesicht und machte sich wieder auf den Weg nach oben. Als sie aus der Toilettentür trat, stieß sie fast mit Anatole zusammen, der sich mit einer Stehleiter und einem Päckchen Glühbirnen durch den dunklen Gang tastete. Sie ließ die Tür auf, so dass ein breiter Lichtstrahl den Flur erhellte, fragte den Kellner, ob sie ihm behilflich sein könne und machte sich, da er energisch abwinkte, auf den Weg zurück zu Lili.
„Hast du eben so geschrien?“, fragte ihre Freundin.
„Allerdings“, bestätigte Helen und machte es sich wieder auf ihrer Bank gemütlich. Sie nahm einen Schluck von ihrem inzwischen lauwarm gewordenen Kaffee und erzählte kurz, was sich auf der Treppe zugetragen hatte.
„Tjaa“, machte Lili und zog das Wort in die Länge. „Da habe ich dir wohl eindeutig etwas voraus.“ Sie blinzelte geheimnisvoll und lächelte Helen herausfordernd an.
„Was denn?“ Helen zog die Augenbrauen hoch. „Jetzt sag schon!“
„Im Gegensatz zu dir hab ich ihn gesehen!“ Lili rührte in ihrem Kaffee. „Und ich kann dir sagen, dem würde ich auch gerne mal auf einer dunklen Treppe begegnen.“
Die beiden Freundinnen schauten sich an und brachen dann in so lautes Lachen aus, dass Anatole, der gerade mit seiner Leiter am oberen Treppenabsatz auftauchte, zu Paul hinüber zwinkerte: „Ah la jeunesse!