Blutendes Silber. Peter Raupach

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Blutendes Silber - Peter Raupach

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auf der Flucht zu sein schien. Neben dem vielen Glück waren dies und der frühe Tod seiner Frau Anna Maria die einzigen aber hartnäckigen dunklen Lebensschatten, die jeden neuen Tag des Tuchhändlers verdunkelten. Fast augenblicklich schienen alle Bewohner auf den Beinen zu sein. Jemand öffnete unten geräuschvoll das Tor. Die Magd schalt sich, dass sie nicht flugs selbst am Tor war. Eigentlich, nein nicht eigentlich, sondern ziemlich sicher war, dass man es von ihr so verlangt hätte. Doch wann kam schon mal an einem Feiertag und dann noch zu so früher Stunde ein nicht erwarteter Besucher? Sie spähte weiter nach unten. Ihre Angst vor der zu erwartenden Schelte durch den Hausherren hielt sich in Grenzen. Irgendwie war sie einfach schon zu lange, fast ihr ganzes Leben, hier in diesem Hause. Sie wusste, dass der Hausherr schnell aufbrausend reagierte, wenn etwas nicht nach seinem Ermessen passierte oder einfach von der Regel abwich. So aufbrausend, ja manchmal jähzornig, so gerecht und gütig war er aber auch in der Tiefe seines Herzens. Nicht jeder seiner Geschäftspartner und Kunden vermochte jedoch so tief zu blicken. Welches wiederum dem Hause auch den Gewinn sicherte. Das hatte die Magd schon früh erkannt. Da gab es eine Begebenheit, die sie nie vergessen würde. Am Abend des Todes seiner Frau saß sie spät noch am Küchentisch und stopfte Beinkleider. Eigentlich nur um sich abzulenken von der Aufregung dieses schrecklichen Tages. Keiner in dem Hause achtete an diesem Tag auf das Geld. Und so kam es, das sie keinen Kienspan hatte, sondern eine teure Kerze. Dies macht ein ganz anderes Licht als die Kienspanlampe, dachte die Magd beim Stopfen. Der Hausherr stand plötzlich in der Küche. Ein unsicheres, fast schuldbewusstes Lächeln auf dem Gesicht. Die Augen waren von den vielen Tränen gerötet, die Schultern eingezogen. Er fragte: „Darf ich?“, und deutete in Richtung Stuhl und Tisch. Das fand Gertrude schon sonderbar, dass der Hausherr um Erlaubnis fragte. Aber vielleicht war eben heute alles anders. Gertrude war schnell aufgesprungen, als der Tuchhändler hereinkam und hielt unsicher ihr Nähzeug in den Händen, als sie antwortete: „Aber natürlich dürft Ihr mein Herr, was für eine Frage.“ Nach dem er sich still und in sich gekehrt gesetzt hatte, hörte man nur noch das leise Zischen und Knacken der Glut in der Feuerstelle. Nun fragte Gertrude mit dem Blick auf ihr Nähzeug: „Darf ich?“ Ein kleines Nicken war die Antwort. Dabei huschte ein müdes Lächeln über den gramgebeugten Mund des Tuchhändlers. Minuten vergingen und Gertrude nähte weiter. Irgendwie wich nun aus ihr all die bisherige Anspannung. Sie fühlte sich richtig geborgen in dieser Küche. Ob oder gerade weil der Tuchhändler still bei ihr saß. Dann und diesen Moment wird Gertrude ihren Lebtag nicht vergessen, sagte dieser zu ihr, während er langsam aufstand: „Gertrude, ihr wurdet von meiner lieben Frau gewählt und habt diesem Haus immer treulich gedient. Ich versichere Euch bei Gott, dass Ihr und Euer Sohn immer unter meinem besonderen Schutz stehen werdet. Verzeiht mir, wenn ich Euch mit meinem oft harschen Ton Leid zugefügt habe. Ihr seid nun ein Teil dieses Hauses und damit meines Herzens.“ Dann stand er auf und ging langsam zur Tür hinaus, ohne sich nochmal umzudrehen. Nun erst füllten sich auch Gertrudes Augen mit Tränen.

       Unten wurde das Tor von innen geöffnet und der blonde Schopf ihres Jörg kam zum Vorschein. Er hatte es offenbar verstanden, einen Moment eher an der Tür zu sein. Er blinzelte aus dem Halbschatten des Hauses kommend in Richtung des vermeintlichen Besuchers. Dabei hielt er mit der einen Hand die Tür nur einen Spalt weit geöffnet, mit der anderen schirmte er die Augen ab, da die Sonne jetzt voll die Straße in hellgelbes Morgenlicht tauchte. Er versuchte schräg nach oben in das Gesicht des Reiters zu blicken: „Gott zum Gruße, edler Herr, ich bin Jörg, der Pferdeknecht des ehrbaren Tuchhändlers. Was begehrt ihr?“ Bevor der Reiter antworten konnte, wobei er sich gerade leicht nach unten beugte, erschien der Tuchhändler hinter Jörg. Jörg ging höflich beiseite. Fast ein wenig enttäuscht, doch merkwürdig berührt. Denn das was er hörte und sah, war für ihn auf einen Punkt gebracht, die erfüllte Sehnsucht nach der großen Welt. Es war sein großer Traum. Ein eigenes Pferd, eigenes Zaumzeug und einen weichen ledernen Sattel, die erhabene Kleidung und eine wichtige Funktion. Im Auftrag eines großen Mannes unterwegs sein und die Taschen voll Silber. Der Tuchhändler machte nun selbst das Tor weiter auf. Die Sonne ergoss sich sogleich auf den mit roten und dunkelgrünen Steinen gepflasterten Innenhof. Dieser führte geradewegs in einen sich erweiternden Hausflur. Die Magd konnte sich in Gedanken ein genaues Bild machen. Der Hausherr mit zerzaustem Haar und nur mit flüchtig übergeworfenem Hausmantel bekleidet, biegt schimpfend im Hausflur um die Ecke. Ihr Sohn, der gute Jörg, steht aber schon am Tor. Gott sei Dank, dachte die Magd. Es würde keinen Ärger mit dem Hausherren geben. Ihr Jörg war eben doch schon ein gestandener junger Mann mit etwas Grütze im Kopf. Ach, Grütze, das war es! Sie musste den Kessel über die Feuerstelle hängen. Doch das hatte Zeit. Viel wichtiger war es der Magd jetzt hier zu sein. Nichts durfte sie verpassen. Endlich gab es mal etwas Aufregendes, etwas ganz Tolles. So was gab es nicht alle Tage. Die Neugier hatte die Magd nun voll erfasst. Man hätte sie jetzt förmlich vom Fenster wegreißen müssen. Aber es war nicht allein einfache Neugier. Es war die schöne Gier. Die Gier nach Leben. Leben hieß für Gertrude Liebe zu ihrem Sohn, hieß aber nach neunzehn Jahren des Verlustes ihres Geliebten auch Schmerz und unerfüllte Sehnsucht. Das Taubheitsgefühl in den Zehen, auf denen sie immer noch leicht wippend ausharrte, schien wie weggepustet. Ein unbekannter, merkwürdiger Reiter klopft ans Tor. Und der war auch noch interessant, nein, sogar gut aussehend! Das Pferd, eine schöne Apfelstute, mit großen klugen braunen Augen schien eine Einheit mit diesem Reiter zu bilden. Obwohl der Reiter hier an diesem Ort eine wichtige Aufgabe zu erfüllen hatte, vergaß er nicht sein treues Tier. Nur Gertrude sah es! Er streichelte mit seiner großen sehnigen Hand liebevoll den Nacken der Stute. Sie dankte es ihm, indem sie sich wie zufällig zu ihm umdrehte. Der Reiter nickte liebevoll und augenblicklich war alle Unruhe aus dem Tier gewichen. Gertrude nahm diesen Anblick aus dem Fenster wie ein kostbares Geheimnis auf. So ein Mensch war es wert. So ein Mensch war es wert, von Gott geliebt zu werden. So ein Mann. Ein lang vergessenes und doch ersehntes Gefühl ergoss sich endlich wieder durch ihren Körper. Dessen musste sie sich, wollte sie sich nicht schämen. Natürlich war er viel zu jung! Wobei…, dachte die Magd. Und noch etwas…solche Männer musste der Teufel fürchten.

      „Eine Nachricht vom Konsistorialsekretär aus der Kanzlei meines Kurfürsten an Euren Sohn! Ich soll auf Eure Entscheidung und dessen Antwort warten, Herr Ratsherr!“ Der Hausherr nickte langsam und antwortete: „Steigt ab, seid willkommen und begebt Euch für eine Stärkung in die Küche! Euer Pferd wird versorgt.“ Nach hinten, zum Knecht gerichtet: „Jörg, Wasser und Hafer für diese Stute. Sagt Eurer Mutter, wir haben Besuch!“ Während der Hausherr das Tor nun weit offen ließ, eilte er in den Innenhof. Als er ihn überquert und die überdachte Holztreppe erreicht hatte, rief er laut hinauf zu den oben gelegenen Zimmern: „Heinrich steh auf wir haben wichtigen Besuch! Hört doch! Wo ist denn der Junge schon wieder?“ Gertrude wäre fast vom Schemel gefallen. Gleich sollte der fremde Bote bei ihr in der Küche sein! Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Doch dann zwang sie sich zur Ruhe. Sie hielt sich kurz am Fenstergriff fest, dann stieg sie vom Schemel. Nun ordnete sie ruhig ihr Haar. Dann schaute sie in eine Schüssel mit Wasser, zupfte den Kragen ihrer geschnürten Bluse gerade und murmelte halblaut zu ihrem Spiegelbild im Wasser: „Komm schon, Trudi, du bist doch noch eine begehrenswerte Frau!“

      

      Halle, zwei Jahre zuvor

      Der neue Kapellmeister macht sich bisher wirklich gut, dachte Johannes Conrad von Wiese, als die Musik aus Richtung der Ostempore verklungen war. Sorgfältig legte er das kleine Seidenband zwischen die beiden Seiten der Heiligen Schrift. Heute ging es um Hesekiel 9,4-11. Ob ihn überhaupt jemand verstanden hatte? Er schlug das Buch zu, klemmte es sich unter den Arm und blies dann das Leselicht aus. Ein kurzer Blick in die Runde. War alles ordentlich auf der Kanzel? Ach ja, die Predigt-Sanduhr, eine Spezialanfertigung eines Augsburger Goldschmiedes, hing etwas schief. Es war einer dieser neumodischen Zeitmesser für Kirchen, welcher aus vier nebeneinander hängenden Sanduhren bestand. In den Sanduhren lief der Sand unterschiedlich schnell durch. Die Apparatur hing außen an der Brüstung der Kanzel und war von unten, wo die Gläubigen saßen, gut zu sehen. Einige Gläubige starrten ständig auf den rinnenden Sand. Bei Conrad erzeugte dies immer ein Gefühl des Gehetztseins. Conrad kam es dann so vor, als ob sie das baldige Ende seiner Predigten herbeisehnten. Es konnte nicht nur ein Gefühl sein. Conrad

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