Kalter Krieg im Spiegel. Peter Schmidt

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Kalter Krieg im Spiegel - Peter Schmidt

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waren dreizehn Fälle bisher, und nach seiner Überzeugung befand sich kein Unschuldiger darunter.

      »Glauben Sie mir«, versicherte er bei jeder Gelegenheit, »wenn auch nur die geringste Chance besteht, sie durch ein ordentliches Gerichtsverfahren aus dem Verkehr zu ziehen, dann wählen wir diesen Weg …«

      Bevor ich in die Wohnung zurückkehrte, warf ich einen Blick in den Eingang des ehemaligen Fahrradgeschäftes, dessen Schaufensterauslagen mit Packpapier verhängt waren: Der Arm des hölzernen Radfahrers, den man durch die staubige Türscheibe erspähen konnte, hing herab. Es bedeutete, dass in der Tiefgarage und in der Wohnung alles in Ordnung war. Sein Arm wurde über einen elektrischen Mechanismus ferngesteuert. Der Mann auf dem Fahrrad trug die Kleidung und den Hut eines Radfahrers der Jahrhundertwende. Die Spitzen seines aufgezwirbelten wilhelminischen Schnurbarts waren aus echtem Menschenhaar, und er sah mich unverwandt und freundlich lächelnd an.

      Das Lächeln eines glücklichen Radfahrers, dem Beweglichkeit und Freiheit alles bedeuten. Er trat in die Pedale, aber er kam nicht voran …

      Ich ging an der Hausfront entlang und durch die Toreinfahrt. Es dämmerte bereits. Der Lichtschein der Lampen jenseits der Mauer fiel bis in den Hof.

      Ein hünenhafter Mann mit krausem, hellem Haar kam mir vom anderen Ende der Toreinfahrt entgegen. Er sah mich nicht an, sondern starr an mir vorbei, und versenkte eine Hand in der Jackentasche, als er an mir vorüberging.

      Am Ende der Einfahrt, schon fast auf dem Gehsteig, blieb erstehen und wandte sich zu mir um.

      »Hallo«, sagte er. »Wohnen Sie in diesem Haus?«

      Bei seinen Worten zögerte ich kurz. Es schien, als klinge in seiner. Stimme ein irgendwie bedrohlicher (oder drohender?) Unterton mit. Dann schüttelte ich den Kopf und ging weiter. Während ich die Außenwand umrundete, hörte ich plötzlich seine raschen Schritte hinter mir.

      »Sind Sie … Mahler?«, fragte er und legte seine Hand auf meine Schulter.

      Ich warf einen prüfenden Blick zu den Schatten des Trümmergrundstücks hinüber, auf dem hohes Unkraut wuchs. Es begann an der Hofgrenze. Rechts davon war die Zufahrt zur Tiefgarage des Nachbarhauses. Der ideale Platz, um jemandem aufzulauern. Dann wandte ich mich langsam um und sah ihm ruhig in die Augen.

      »Nein, wieso?«

      Er musterte mich ungläubig. Er schien etwas kurzsichtig zu sein. Sein Blick wanderte forschend in meinem Gesicht umher. »Schon gut«, meinte er. »Entschuldigen Sie.«

      Er kehrte mit langsamen, ein wenig stelzenden Schritten zur Toreinfahrt zurück.

      Ich betrat die Tiefgarage, in der nur eine grüne Deckenleuchte brannte, und suchte nach dem Schalter. Als die Neonlampen aufflammten, ging ich zum Fahrstuhl hinüber, schloss das Eisentürchen in Höhe der Scheibe auf und tippte den Kode ein.

      Mahler? überlegte ich, während ich nach oben fuhr. Der Name erinnerte mich an jemanden … richtig: So hieß der »ostdeutsche Botschafter in Venezuela«, für den mich F. einem seiner Mädchen gegenüber ausgegeben hatte.

      Ich erinnerte mich noch gut an sie. Ein etwas pummeliger und anhänglicher Typ. Auch ein wenig einfältig. Wie den meisten ihrer Genossinnen – vielleicht den Menschen überhaupt – fiel es ihr manchmal schwer, Wirklichkeit und Einbildung auseinanderzuhalten.

      In unserem Gewerbe wird diese Unsicherheit zu einer Berufskrankheit; aber im Grunde ist sie so verbreitet wie die Atemluft. Es gibt gewisse Auffassungen, die als wahr gelten. Mehr weiß niemand. Offenbar haben sie die Funktion, sich selbst und andere zu manipulieren. Das junge Mädchen glaubt an die glückliche Ehe, der Marxist an die Ewigkeit der Welt; F. glaubt, dass er auf der richtigen Seite kämpft, und ich bin davon überzeugt, dass ein weiterer Fehler mich physisch und seelisch ruinieren könnte.

      Vermutlich ist nichts davon wirklich wahr (es ist tröstlich, das für einen Augenblick zu glauben). Wäre es nicht denkbar, es ließe mich völlig kalt? Doch Regina – so hieß das pummelige Mädchen – schien noch verwirrter als alle, die ich vorher gekannt hatte.

      Wir lebten zwei Wochen lang in einer winzigen Mansardenwohnung voller gehäkelter, gefärbter, selbst bemalter, geklebter, gestanzter, gezeichneter Dinge und unzähliger Bücher, deren Inhalt für sie ebenso wahr zu sein schien wie die üblichen Lügen, denen wir glaubten.

      Wenn wir rauchend auf der Couch lagen, versuchte ich ihr manchmal Dinge weiszumachen, die dazu angetan waren, ihr konfuses Weltbild noch weiter zu verunsichern. Was, zum Beispiel genau, ließe sie eigentlich glauben, dass diese ganze verdammte Wohnung mit ihrem Selbstgehäkelten mehr sei als ein Bild, das sich in ein bloßes physikalisches Substrat auflöse, sobald man die Augen schließe oder um die Straßenecke verschwinde?

      Aber ihre Sorgen waren anderer Art. Zu jener Zeit hatte sie gerade Bölls Ansichten eines Clowns gelesen und einen tiefen Hass gegen den rheinischen Katholizismus entwickelt. Sie nahm die Literatur für Realität, und wenn sie in Bonn gelebt hätte, wäre sie womöglich nachsehen gegangen, ob der Clown mit seinem weißgeschminkten Gesicht tatsächlich auf der Bahnhofstreppe saß und Gitarre spielte.

      Ich versuchte ihr klarzumachen, dass es, wenn überhaupt, höchstens einige aufschlussreiche Parallelen gab und dass man die Details nicht allzu ernst nehmen durfte. Sie sah es auch ein, einfältig wie sie war (sie sah fast alles ein, wenn es nur im Brustton der Überzeugung vorgetragen wurde); doch als sie Jongs Angst vorm Fliegen las, erklärte sie, die Autorin (und nicht etwa Isadora Wing, die Ich-Erzählerin) sei ein Schwein und so phallozentrisch wie nur irgendwer (ich weiß nicht, wo sie das Wort aufgeschnappt hatte), und das Ganze sei lediglich ein PR-Trick und ein billiger Henry-Miller-Aufguss.

      Vielleicht hatte sie recht, aber es erschreckte mich doch, mit welcher Leichtigkeit sie Literatur und Wirklichkeit verwechselte.

      Das machte sie zu einem leichten Opfer für F.s Erzähltalent. Den ostdeutschen Diplomaten nahm sie mir ohne weiteres ab. F. war schließlich die Autorität in dem Laden und ihre Wahl durch ihn eine Auszeichnung. Es war eine der großen Krankheiten, an der wir alle litten: ständig Wirklichkeit und Vorspiegelung zu verwechseln. Natürlich um so mehr, als wir glauben wollten, was wir uns vorlogen.

      Meine Aufgabe beruhte in nichts anderem, als Realität und Erfindung zu trennen.

      Wahrscheinlich war es das, was mich daran gereizt hatte, als ich weder die Verteidiger- noch die Richterlaufbahn einschlug, sondern Staatsanwalt wurde: die menschliche Tragödie zu entschleiern, zu entwirren, genauer gesagt. Denn überall war Nebel.

      Was genau das heißt? Ich glaube, um dies besser zu verstehen, muss man eine Zeit lang Wissenschaftstheorie und Rechtwissenschaft studiert haben. Und besser noch: sprachanalytische Philosophie.

      Die ganze Demokratie – ich war weiß Gott nicht gegen sie – war ein Kompromiss und ein Bluff, der auf der Vorspiegelung zweckdienlicher politischer Fiktionen beruhte.

      So abgegriffen das Wort vom »politischen Welttheater« auch sein mochte, es traf die Verhältnisse im genauesten und wahrsten Sinne, hüben wie drüben. F. gegenüber hätte ich diesen Mangel an ideologischer Solidarität und Überzeugung nie zugegeben.

      Einen Zipfel der Wahrheit zu erhaschen, war ein Vergnügen, das ihn vermutlich so wenig interessierte wie den Marxisten die Widersprüche des DIAMAT. Ich wurde den Verdacht nicht los, dass er ernsthaft glaubte, die Ost-West-Malaise ließe sich durch »richtiges« Handeln überwinden.

      Dass es so etwas wie richtiges

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