Weckzeit. Norbert Böseler

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Weckzeit - Norbert Böseler

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Zeiger rückwärtslaufen? Als Sie ihn mir vor Jahren gebracht haben, ging er noch richtig. Soll ich Ihnen sagen, an welchem Tag sich das geändert hat?“

      Ich sah den Mann an und nickte.

      „Am 4. Juli 2006. Warum ich das so genau weiß, fragen Sie sich jetzt bestimmt. An dem Tag endete das Sommermärchen. Unsere Nationalmannschaft verlor im Halbfinale 2:0 gegen Italien. Aus lauter Frust habe ich mich an diesen Tisch gesetzt und mich betrunken. Doch ich war noch völlig nüchtern, als ich erkannte, wie der Wecker plötzlich rückwärtsging. Ich habe ihn angestarrt und plötzlich änderte der Sekundenzeiger die Richtung“, erläuterte der Mann und sah mich an. „Ist Ihnen nicht gut?“

      Ich umgriff krampfhaft den Knauf des Stockes und stützte mich mit der anderen Hand am Tisch ab. Mir wurde schwindelig. Tausend Gedanken schwirrten durch meinen Kopf. Der 4. Juli 2006! Der Tag, der mein Leben verändert hatte. Der Tag, an dem ich diesen schrecklichen Unfall hatte. Der Tag, an dem unsere Tochter verschwunden war. Der Tag, an dem ich mein Bein verloren hatte.

      „Sie haben ja keine Farbe mehr im Gesicht! Soll ich Ihnen etwas zu trinken holen?“

      „Nein danke, geht schon. Was ist jetzt mit dem Wecker, verkaufen Sie ihn mir oder nicht?“, wollte ich bloß wissen, nichts schien mir wichtiger.

      „Da Ihnen so viel daran gelegen ist, können Sie ihn haben. Anscheinend habe ich ihn nur für Sie aufbewahrt, warum auch immer. Geben sie mir 200 Euro und Sie können beides mitnehmen. Den Glockenwecker braucht man übrigens nicht mehr aufziehen, er bleibt seit dem Richtungswechsel nicht mehr stehen. Ich wickle die Sachen noch ein und gebe Ihnen eine große Tüte mit“, sagte der ältere Mann und verschwand im Nebenzimmer.

      Etwa fünf Minuten später verließ ich den Laden. Etwas unbeholfen, mit der großen Tasche in der Hand, machte ich mich auf den Weg zum Auto. Es war kalt, doch mich durchfuhr eine undefinierbare Wärme. Der Stumpf juckte wie noch nie.

      2004 / 3

      Noras Schreie verstummten. Sie musste Ruhe bewahren. Allein schon der Anblick des Mannes hatte sie in Panik versetzt. Der grüne OP-Mantel, dazu die schwarze Gummimaske und ihre eigene Unbeweglichkeit, hatten ihren Verstand aussetzen lassen. Sie versuchte, die Situation zu erfassen. Unter der Brücke wurde sie von dem Unbekannten überfallen, danach wusste sie nichts mehr. Nun lag sie auf diesem stählernen Tisch und war an Beinen und Händen gefesselt. Bis auf das Oberteil war sie vollständig bekleidet, was daraus schließen ließ, dass der Mann sie nicht vergewaltigen wollte. Doch sein bizarres Aussehen deutete auf etwas viel Schlimmeres hin. Als der Mann ein Skalpell und eine Säge aus der Schublade hervorholte, schnürte die Angst jeden klaren Gedanken ab. Nora sah dabei zu, wie der vermummte Mann die Nadel einer Spritze in ihren Arm stach, doch den Einstich spürte sie nicht. Die innere Panik hatte ihren Körper bereits betäubt. Ihr Mund war trocken, die Zunge fühlte sich an wie Schleifpapier, trotzdem wagte sie zu sprechen. Sie musste mit dem Mann reden, anders konnte sie ihn nicht von seinem Vorhaben abbringen. Was immer er auch zu tun gedachte, sie musste ihn davon abhalten.

      „Was haben Sie vor? Bitte tun Sie mir nicht weh!“, stammelte Nora, die ihre trockne Zunge kaum kontrollieren konnte.

      Der Mann sah sie mit eiskalten, blaugrauen Augen an, die aus der schwarzen Maske hervorlugten wie zwei Fremdkörper. Seine Lippen verzogen sich zu einem breiten Grinsen, wobei das Gummi an den Mundwinkeln grimmige Falten schlug. Dann blickte er wieder mit ernster Miene in ihre Richtung. Stelze mochte die junge Frau, sie strahlte etwas Besonderes aus. Er wollte sie nicht unnötig verängstigen, zudem verspürte er sogar einen Hauch von Mitleid. Entgegen seiner Gewohnheit beschloss Stelze, einige Worte mit seinem Opfer zu wechseln.

      „Ich nehme Ihnen etwas weg!“, sagte er und zog Noras silbernen Ring vom rechten Mittelfinger.

      „Sie wollen den Ring?“, fragte Nora, fast schon ein wenig erleichtert.

      „Nein, den Finger. Und wenn es mir danach nicht bessergeht, vielleicht noch einen zweiten. Falls Sie Dummheiten machen sollten, nehme ich unter Umständen die ganze Hand ab“, erläuterte der Mann in ruhigem Tonfall, als wären seine Drohungen das Normalste auf der Welt.

      Noras Herz pochte laut in ihrer Brust. Ihre Gedanken drohten erneut auszusetzen. Sie sah, wie der Mann ein flaches Band aus der Schublade holte und ihr damit den Oberarm abschnürte. Sie probierte den Arm wegzuziehen, doch aufgrund der Fesseln konnte sie sich kaum bewegen. Sie war dem irren Mann wehrlos ausgeliefert.

      „Warum machen Sie das, ich habe Ihnen doch gar nichts getan“, sagte Nora kaum verständlich mit zitternder Stimme.

      „Ich muss es einfach tun. Mir wurde etwas genommen, jetzt wird Ihnen etwas genommen. So grausam kann das Leben sein. Ein Nehmen und Geben. Auch wenn es einem noch so schwerfällt, man muss sich von Dingen verabschieden können. Ich wurde von meinem damaligen Leben getrennt, da fällt ein einzelner Finger nicht so ins Gewicht. Spüren Sie Ihre Hand noch?“, fragte der maskierte Mann abschließend.

      Nora ignorierte die Frage. Im Moment fühlte sie außer blankem Entsetzen nichts.

      „Wer sind Sie, dass Sie so abscheuliche Dinge tun müssen?“, fragte sie stattdessen.

      „Stelze, mein richtiger Name tut nichts zur Sache. Stelze, hat man mich als Kind genannt, weil ich so dünne lange Beine hatte. Die anderen Kinder haben mich deswegen gehänselt und beleidigt. Man hat mir sogar gedroht, die Stelzen eines Tages abzusägen. Wie Sie sehen, habe ich meine Beine noch, doch die Kindheit wurde mir verdorben. Man kann nicht sagen, dass ich zu der Zeit glücklich gewesen bin. Es gab nicht viele erfreuliche Momente in meinem Leben. Wenn ich besonders unglücklich bin, kehrt der gedemütigte Stelze wieder zurück und sorgt für Wiedergutmachung. Jetzt fordert er von Ihnen ein Opfer, damit mein Leben wieder lebenswert wird. Außerdem geht Sie das gar nichts an. Was ist nun mit der Hand, spüren Sie sie noch?“

      Nora schüttelte mit dem Kopf. Das Einzige, was sie spürte, waren die warmen Tränen, die über ihre Wangen flossen. Ein leichter Luftzug strich über die Tränen. Wenige Meter vor ihr, oben an der Wand, befand sich ein großes Lüftungsgitter. Für Nora sah es aus wie das Gitter eines Folterkellers.

      Der Mann, der sich Stelze nannte, streifte sich durchsichtige Handschuhe über und griff nach dem Skalpell. Er fasste nach Noras Mittelfinger und setzte das scharfe Messer an. Als er anfing zu schneiden und erste Blutstropfen aus der Wunde traten, drehte Nora sich ab. Sie verfiel in eine Art Wachtrauma, schreckliche Fantasien kreisten in ihrem Kopf. Sie hatte keine Schmerzen, alles schien taub zu sein. Dennoch vernahm sie das kratzende Geräusch der Säge. Irgendwann spürte sie einen dumpfen Druck an ihrer Hand, woraufhin ein kurzes, entsetzliches Knacken folgte. Danach fühlte sie sich in gewisser Weise erleichtert, als wäre eine Last von ihr abgefallen. Sie bemerkte, wie der Mann von ihr abließ und anschließend durch den Raum wanderte. Er ging um den Tisch, immer wieder. Wenn er in Noras Blickfeld kam, schlug er mit der offenen Handfläche gegen seine Stirn und sprach unverständliche Worte. Er schien einen Kampf mit sich selbst auszufechten. Nach unendlichen Minuten beruhigte er sich wieder und setzte sich zurück auf den Hocker. Nora sah ihn mit weinerlichen Augen an, unfähig ein Wort zu sagen. Als ihr Blick abschweifte, entdeckte sie im Hintergrund neben der Spüle einen Teddy, der auf einem Stuhl saß. Das beigefarbene Plüschtier hatte nur einen Arm. Der Mann griff erneut zum Skalpell. Dann fiel ein dunkler Vorhang, der Nora mit ins Nirgendwo zog.

      Als Nora wieder aufwachte, war ihr kalt. Sie blinzelte in die aufgehende Sonne, die sich zwischen den Bäumen zeigte. Sie lag auf einer harten Holzbank. Nora richtete sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf. Ringsum standen Bäume. Vor der Bank führte ein schmaler Weg tiefer in den Wald hinein. Ihre Hand pochte. Nora blickte auf den sorgfältig

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