Weckzeit. Norbert Böseler

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Weckzeit - Norbert Böseler

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Fahrer des Geländewagens war einfach weitergefahren und behauptete hinterher, er habe von all dem nichts mitbekommen. Ein Pendler aus unserem Nachbarort entdeckte das verunglückte Auto. Er suchte die Unfallstelle ab, und nachdem er niemanden vorgefunden hatte, informierte er die Polizei. Man konnte keine Zeugen ausfindig machen, die von dem Unfallhergang oder von einer eventuellen Entführung etwas gesehen hatten. Die Spurensicherung fand ausschließlich mein Blut im Fahrzeuginneren, ansonsten gab es keine Indizien, die auf eine weitere Person am Unfallort schließen ließen. Die ärztliche Untersuchung ergab, dass ich mir eine schwere Gehirnerschütterung zugezogen hatte, wobei eine Platzwunde über dem linken Auge fachmännisch genäht worden war. Des Weiteren hatte ich mir zwei Rippen gebrochen. Was die Amputation anbelangte, attestierten die Ärzte dem Unbekannten, der sie durchgeführt hatte, zumindest Hintergrundwissen und Sachverstand. Rein äußerlich sah die Wunde gut aus, die durchtrennten Gewebe - und Hautlappen waren sauber miteinander vernäht worden. Über die Notwendigkeit des Eingriffs gab es keine Anhaltspunkte. Dem Unfallschaden und den Blutspuren nach zu deuten, lag offensichtlich keine schwerwiegende Beinverletzung vor. Alle polizeilichen Ermittlungen verliefen im Sand und wurden mittlerweile eingestellt. Zwischendurch gab es die Vermutung, ich könnte einem Serientäter zum Opfer gefallen sein, der im norddeutschen Raum Personen kidnappte, ihnen Gliedmaße abtrennte, und sie dann wieder frei ließ. Das spurlose Verschwinden unserer Tochter widerlegte diese These, sodass man dem Verdacht unverständlicherweise nicht weiter nachging. Es gab damals wie heute viele Fragen, die bislang unbeantwortet geblieben sind. Man ließ uns mit einer quälenden Ungewissheit alleine. Die äußerlichen Wunden waren verheilt, doch unsere innere Seele wurde von unheilbaren Narben geprägt.

      Ich wandte mich vom Wecker ab und ging ins Bad. Ich legte meine Kleidung in das Regal, löste das Vakuum aus dem Schaft und zog die Prothese vom Stumpf. Ich nahm die Krücke von ihrem angestammten Platz, die ich benötigte, um die wenigen Schritte zur Dusche bewältigen zu können. Ich setzte mich auf den Duschhocker, die Krücke stellte ich in die Ecke. Das anfänglich eiskalte Wasser ließ mich wie gewohnt zusammenzucken, vertrieb jedoch die wirren Gedanken aus meinem Kopf. Ich duschte zuerst immer kalt, dann genoss ich die angenehme Wärme, die meinen Körper flutete.

      Nach der ausgiebigen Dusche hüllte ich mich in den Bademantel, legte meine Armbanduhr wieder an und ging zurück ins Wohnzimmer. Dort nahm ich den Wecker, dann humpelte ich weiter in mein Schlafzimmer. Anja und ich hatten getrennte Schlafzimmer. Zum einen, weil wir häufig unterschiedliche Schlafzeiten hatten, zum anderen, weil unser Liebesleben, unsere Zweisamkeit, nicht mehr so harmonisch verlief wie zu glücklicheren Zeiten. Sex hatten wir nur noch selten, meistens trieb uns der Frust gemeinsam ins Bett. Dann gaben wir uns der Hemmungslosigkeit hin, die uns für den Moment aus der grauen Realität entfliehen ließ. Anfänglich hatte Anja Probleme mit meiner Verstümmelung, was ich ihr nicht verdenken konnte, doch mit der Zeit gewöhnte sie sich an den Anblick. Aus Liebe, Zuneigung, oder aus purer Lust wurden wir so gut wie nie intim. Nicht, dass wir uns nicht mehr liebten, doch der Keil, der zwischen uns getrieben worden war, saß fest verankert. Nur die Gewissheit über den Verbleib unserer Tochter konnte ihn lösen. Ich stellte den Wecker auf die Nachtkonsole, die seitlich am Kopfteil des Bettes fest integriert war. Er wirkte auf dem dunkel gebeizten Holz optimal, so als stände er dort schon seit Jahrzehnten. Ich setzte mich auf den Stuhl neben dem Bett, stellte die Krücke an die Wand, und schälte mich aus dem Bademantel. Nachdem ich T-Shirt und Shorts angezogen hatte, hüpfte ich die drei Schritte auf einem Bein zum Bett und kroch unter die Bettdecke. Ich schaltete die Nachttischlampe an, die neben dem Wecker stand, knipste dann mit der Fernbedienung die Schlafzimmerbeleuchtung aus. Mein Blick verfolgte fasziniert den linksherumlaufenden Sekundenzeiger. Ich verglich die angezeigte Uhrzeit mit meiner Armbanduhr. Sie stimmte natürlich nicht überein. Der Wecker zeigte auf 4:30 Uhr, vielleicht handelte es sich auch um 16:30 Uhr, meine Armbanduhr hingegen wies auf 22:30 Uhr. Obwohl ich eigentlich ein nachtaktiver Mensch war, der lieber spät schlafen ging und am Morgen gerne länger im Bett blieb, fühlte ich mich müde. Ich schaltete das Licht aus, drehte mich auf den Rücken, und lauschte. Durch die absolute Stille des Raumes drang ein leises, beruhigendes Ticken in mein Ohr. Es tickte, tickte, tickte..., irgendwann schlief ich ein.

      2005

      Es tickte im Sekundentakt, plötzlich fing es an zu läuten. Verschlafen schlug ich die Augen auf und tastete nach dem Wecker. Ich peilte den Bügel an, der die beiden Glocken miteinander verband und drückte ihn behutsam nach unten. Das Klingeln verstummte, der kleine Bolzen kam zum Stillstand. Instinktiv rieb ich mir die Augen. Tageslicht durchflutete den Raum. Bevor ich die Umgebung wahrnahm, bemerkte ich den modrigen Geruch. Feuchte, abgestandene Luft, die nach Schimmel roch, drang in meine Nase. Ich starrte nach oben. Die weiß gestrichene Decke war mit graugrünen Flecken benetzt. Ich schlug die Bettdecke zurück und richtete mich auf. Eisige Kälte verursachte auf meinen Armen eine Gänsehaut. Ein ganz anderer Schauder lief mir über den Rücken, als ich mich umsah. Ein völlig leeres Zimmer präsentierte sich mir. An den Wänden hingen alte vergilbte Tapeten. Helle, rechteckige Stellen zeichneten sich ab, an denen Bilder gehangen haben mussten. Anstatt Parkett bedeckte ein grauer, muffig riechender Veloursteppich den Boden. Es gab keine Gardinen vor dem Fenster. Nur die Kassettentür aus Eichenholz erinnerte an mein Schlafzimmer. Das einzige Möbelstück, was sich in dem Raum befand, war mein Bett, in dem ich wie versteinert aufrecht saß. Zuerst dachte ich an einen Traum, doch ich war hellwach, spürte die Kälte, roch den unangenehmen Geruch. Aus reiner Verzweiflung kniff ich mir in den Unterarm. Es tat weh. Ich war tatsächlich wach. Ich drehte mich zur Nachtkonsole. Lampe und Wecker standen wie zuvor nebeneinander, doch das Kabel der Lampe lag auf dem Boden. Ein Blick zur Wand zeigte mir, dass die Steckdose fehlte. Ich erinnerte mich, dass in unserem Haus viel zu wenig Steckdosen angebracht waren und wir in dieser Hinsicht kräftig nachrüsten mussten. Unter anderem hatten wir neben meinem Bett eine Dreifachdose installiert, die nun nicht mehr da war. Wie der Kleiderschrank, der Stuhl und vor allen Dingen meine Krücke nicht mehr vorhanden waren. Ich blickte auf den Wecker. Was mir diesmal sofort auffiel, war, dass der Sekundenzeiger sich in die richtige Richtung bewegte, er lief vorwärts. 11:05 Uhr zeigte der Wecker an. Meine Armbanduhr wies auf exakt die gleiche Zeit. Sollte ich etwa zwölf Stunden geschlafen haben? Unmöglich schien das nicht. Doch die Umstände, unter denen ich aufgewacht war, verursachten bei mir großes Unbehagen. Ich rutschte zur Bettkante, widerwillig setzte ich meinen Fuß auf den verschmutzten Teppich. Ich wollte zum Fenster, welches sich rechts vom Bett befand. Mühsam wuchtete ich mich hoch, machte einen kurzen Satz zur Wand, wo ich mich mit der Hand abstützte. So hangelte ich mich an der Wand entlang bis zum Fenster. Vor mir bot sich ein bekannter Anblick, nur mit dem Unterschied, dass der Kirschenbaum, der am Ende des Rasens stand, erheblich kleiner war als gestern.

      Schritt für Schritt hüpfte ich weiter bis zur Schlafzimmertür. Als ich sie öffnete, schlug mir ein noch intensiverer Geruch entgegen. Es roch nach Katzenurin. Auch der Flur war mit Teppichbelag ausgelegt. An der Decke hingen noch die hässlichen Kunststoffpaneele, die wir gleich zu Beginn der Umbauten rausgerissen hatten. Ich öffnete die nächste Tür und sah in das karge Schlafzimmer meiner Frau. Auch hier, Teppich und keine Möbel. Ich ging weiter durch den Flur, wollte zum Bad, da ich auf die Toilette musste. Schwer schnaufend erreichte ich die Tür. Als ich die Klinke drückte, musste ich feststellen, dass die Tür zu allem Überfluss auch noch klemmte. Erst als ich mich mit der Schulter dagegenstemmte, flog sie auf, dabei verlor ich den Halt und fiel zu Boden. Gottseidank konnte ich den Sturz mit der Hand etwas abfangen. Ich robbte zum Waschbecken, wo ich mich wieder hochzog. Ich erledigte mein Geschäft, anschließend drückte ich die Spülung. Nur sparsam tröpfelte bräunliches Wasser in die Kloschüssel. Auch aus dem Kran des Waschbeckens strömte zunächst rostbraunes Wasser. Erst als es hell und klar wurde, wusch ich mir die Hände und das Gesicht. Das Bad hatten wir nach meinen Ansprüchen umgestaltet. Hier sah es so aus, wie ich es bei meiner damaligen Begutachtung vorgefunden hatte. Die Dusche bestand noch aus einer Wanne mit hohem Einstieg. Der Duschvorhang, der zwischen Kabine und Wand hing, erregte meine Aufmerksamkeit, vor allem die Stange, wo der Vorhang mittels Ringe eingefädelt worden war. Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen die Wand, griff nach dem Vorhang und zog ihn nach unten. Immer wieder zerrte ich ruckartig an der bunten PVC Folie. Erst nachdem zwei Ösen abgerissen waren, fiel

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