Weckzeit. Norbert Böseler

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Weckzeit - Norbert Böseler страница 9

Автор:
Серия:
Издательство:
Weckzeit - Norbert Böseler

Скачать книгу

Ringe fädelte ich aus. Es handelte sich um eine Teleskopstange, deren Länge man individuell einstellen konnte. Ich hielt das Aluminiumrohr fest umklammert und drehte die eine Hälfte nach links. Mir schmerzten schon die Hände, als die Spannung sich endlich löste. Ich stellte die Stange auf die passende Länge ein und spannte die beiden Enden, so fest ich konnte. Nun hatte ich zumindest einen provisorischen Gehstock. Da ich mir angewöhnt hatte, mit nur einer Krücke zu gehen, müsste es funktionieren. Ich stützte mich auf der runden Stange ab und hüpfte mit kurzen Sprüngen zurück in den Flur. Ich sah in jedes Zimmer, überall bot sich mir das gleiche Bild. Alle Räume waren leer. Zum Schluss bewegte ich mich in den Eingangsbereich. In dem kleinen Flur hinter dem Windfang befanden sich noch zwei weitere Türen. Die fürs Gäste-WC und die, die in den Keller führte. Die Kellertür stand einen Spalt weit offen. Ich öffnete sie ganz und zuckte erschrocken zusammen. Aus dem dunklen Treppenloch blickten mir zwei goldfarbene Augen entgegen. Sie bewegten sich hin und her und sprangen plötzlich auf mich zu. Ich wich zurück, dabei wäre ich fast schon wieder gefallen. Eine kleine Katze stieß gegen mein Bein. Sie fing gleich an zu schnurren und drückte ihren schlanken Körper immer wieder gegen mein Bein. Die Katze war schwarz, mit weißen Hinterbeinen und weißen Vorderpfoten. Auch der untere Hals und der Brustkorb zeichneten sich mit einer weißen Blesse vom Fell ab.

      „Lucky?“, wich es über meine Lippen.

      Während der Renovierungsarbeiten streunte eine ausgewachsene Katze um unser Grundstück, die genau so aussah, wie diese. Ab und an wagte sie sich ins Haus und war besonders mir gegenüber sehr zutraulich gewesen, so als würde sie mich bereits kennen. Kurz nach unserem Einzug holte ich sie gegen Anjas Willen ins Haus. Wir nannten die Katze fortan Lucky. Sie fühlte sich gleich heimisch. Meine Frau war hinterher diejenige, die die meiste Zeit mit der Katze verbrachte. Vor etwa drei Jahren fand ich sie tot auf einem Acker hinter unserem Grundstück. Sie war von Schrotkugeln durchsiebt worden.

      Ich spähte noch kurz durch die Butzenscheibe der Haustür. Das Wetter war schön, die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel. Unkraut wucherte durch die Fugen der Pflasterung. Ansonsten fiel mir nichts Ungewöhnliches auf. In der Ferne konnte ich einen Trecker hören.

      Ich beschloss, zurück ins Schlafzimmer zu gehen. Allmählich wurde mir kalt. So humpelte ich mit Hilfe der Duschvorhangstange durch den Flur zum Schlafzimmer. Ich musste aufpassen, weil mir die kleine Katze folgte und fröhlich zwischen Stange und meinem Bein lief. Schwer atmend erreichte ich das Bett. Ich setzte mich auf die Kante. Sofort sprang die Katze schnurrend auf meinen Schoß. Ich kraule sie unter dem Kinn, dabei drehte sie sich auf den Rücken. Unter ihrer rechten Pfote konnte ich den markanten dunklen Fleck auf ihrem ansonsten rosafarbenen Fußballen erkennen. Es handelte sich bei der Katze eindeutig um Lucky. Ich kroch unter die wärmende Bettdecke, derweilen Lucky es sich oben auf der Decke gemütlich machte. Ich hatte keine Einwände, war über ihre Gesellschaft sogar froh. Ein Blick auf meine Uhr sagte mir, dass ich über eine Stunde umhergewandert war. Der Wecker bestätigte diese Zeitspanne. Während ich an die schmuddelige Zimmerdecke starrte, begannen meine Gedanken sich zu drehen. Was war mit mir passiert? Was es auch sein mochte, ich ordnete dieses mysteriöse Ereignis dem Wecker zu. Ich sah mich darin bestätigt, dass dem antiken Wecker etwas Besonderes innewohnte. Seine geheimnisvolle Magie hatte mich an diesen Ort befördert, von dem ich sicher war, dass es sich um unser Haus handelte. Nur befand ich mich hier nicht in der Gegenwart. Die Zeit musste vor unserem Einzug 2008 liegen. Dem Zustand des Hauses nach zu schließen, weit vorher. Ich überlegte, wie lange das Haus leer gestanden haben mag. Ich wusste es nicht genau. Vier, fünf Jahre vielleicht. Der Erbstreit hatte sich meines Wissens nach lange hingezogen. Ich wusste nur, dass es 1998 erbaut worden war. Blieb die Frage, wie es jetzt weitergehen würde. Musste ich hierbleiben, oder gab es ein Zurück, was ich doch sehr hoffte. Vorerst konnte ich nur abwarten. In der jetzigen Situation sah ich keine Möglichkeit, das Haus verlassen zu können. Ich war zur Untätigkeit verdammt.

      Zweimal suchte ich noch das Bad auf. Nicht unbedingt, um mich zu erleichtern, sondern eher, um etwas zu trinken. Den Hunger konnte ich ja noch verdrängen, doch der Durst trieb mich zum Handeln. Lucky folgte mir bei meinen beschwerlichen Ausflügen auf Schritt und Tritt. Nachdem die Sonne untergegangen war, konnte ich das Bett nicht mehr verlassen. Es gab keine funktionierende Lampe, selbst wenn, konnte ich nicht riskieren ein Licht anzuschalten. Auch wenn das Haus abgelegen vom Dorf lag, würde irgendwann jemand das Licht entdecken und neugierig werden.

      Gegen 19 Uhr wurde ich müde. Mein Blick wurde schläfrig, ich bekam leichte Kopfschmerzen, dann begann es zu Ticken. Ich hörte nicht den Wecker, nein, es tickte in meinem Kopf.

      1985 / 2

      Der elfjährige Junge, der von den anderen Kindern nur Stelze genannt wurde, saß im Schulbus und war auf dem Weg nach Hause. Ihm ging es nicht gut. Während der letzten beiden Unterrichtsstunden hatte er schlimme Kopfschmerzen bekommen. Er hatte seine Schwester in der großen Pause nicht gesehen, was bei ihm eine merkwürdige Unruhe auslöste. Er konnte sich nicht mehr auf den Unterricht konzentrieren, da seine Gedanken immer wieder zu Johanna abschweiften. Er liebte seine Schwester abgöttisch, was dazu führte, dass er sich jedes Mal große Sorgen machte, wenn ihm etwas außergewöhnlich erschien. Ob sie nun zu spät nach Hause kam, oder ob sich bei ihr eine Erkältung ankündigte, er machte sich stets Sorgen. Er malte sich die abwegigsten Szenarien aus. Wenn sie zu spät kam, sei sie vermutlich entführt worden. Die Erkältung entwickelte sich bestimmt zu einer Lungenentzündung, an der sie vermutlich sterben würde. Seine Eltern versuchten, ihn dann zu beruhigen, was ihnen jedoch so gut wie nie gelang. Am Ende war er derjenige, der mit einem kalten Waschlappen auf der Stirn im Bett lag und unter Kopfschmerzen litt. Seit er Johanna nicht auf dem Schulhof gesehen hatte, glaubte er, etwas Furchtbares sei mit ihr geschehen. Wahrscheinlich habe ein Kinderschänder sie gequält und anschließend getötet. Mit diesem absurden Gedanken und einem gewaltigen Pochen im Kopf stieg der Junge aus dem Bus. Dass die anderen Kinder aufgeregt durch die Fenster sahen, bekam er gar nicht mit.

      Erst als der Bus gefahren war und er an der Haltestelle stand, sah der Junge die dunklen Rauchwolken, die über den Bäumen emporstiegen. Er rannte sofort los. Auf dem Schotterweg parkte ein Polizeiauto und der Polizist bemühte sich, ihn aufzuhalten. Der Junge wich dem Beamten geschickt aus und lief weiter. Der Mann rief ihm etwas hinterher und folgte dem Kind mit schwerfälligen Schritten. Der Junge hörte nicht hin, er streifte die Schultasche ab, ließ sie einfach auf den Boden fallen und rannte so schnell er konnte. Die grausamen Gedanken in seinem Kopf trieben ihn voran. Johanna und seinen Eltern durfte nichts zugestoßen sein, das würde er nicht verkraften. Er brauchte Gewissheit. Die langen schlaksigen Beine legten ein irrsinniges Tempo vor, das der Polizist nicht halten konnte. Als der Junge den Wald erreicht hatte, roch er den Rauch und hörte knisternde Laute. Dann sah er durch die Bäume das Blaulicht der Feuerwehrfahrzeuge blinken und die lodernden Flammen. Am Ende des Waldes angekommen, erstreckte sich das ganze Ausmaß des Unheils vor seinen Augen. Das Haus war völlig zerstört, überall lagen verkohlte Trümmer. Flammen züngelten aus den zerbrochenen Fenstern. Aus dem offenen Dachgerippe stieg dunkler Rauch auf. Gewaltige Wasserfontänen aus grauen Schläuchen prasselten auf das brennende Gebäude nieder. Auf dem Boden hatte sich ein weitgefächerter Schaumteppich ausgebreitet. Der Rasen glich einem Trümmerfeld. Klinkersteine, noch glühende Holzbalken und die Überreste einiger Möbel zerstreuten sich auf dem rußbedeckten Gras.

      Noch hatte niemand den Jungen entdeckt, erst als er anfing, nach seiner Schwester und seinen Eltern zu rufen, wurde ein Sanitäter auf ihn aufmerksam. Er stellte sich dem nun hysterisch schreienden Jungen in den Weg, der auf das brennende Haus zulief. Der Mann bekam das Kind im letzten Moment zu fassen. Er hielt ihn mit verschränkten Armen vor seiner breiten Brust und versuchte, den verstörten Jungen zu beruhigen. Als der Polizist endlich die Unglücksstelle erreicht hatte, zerrte der Junge an den Armen des Sanitäters und biss ihn in die Hand. Der kurze Moment des Schmerzes reichte dem Jungen aus, er riss sich los und rannte davon. Sofort nahmen die beiden Männer die Verfolgung auf. Der Junge mit den dünnen Beinen überquerte in Windeseile den Rasen. Kurz vor den

Скачать книгу