Die Probanden. Michael Bardon

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Die Probanden - Michael Bardon

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viel Jagertee, zu viele Runden hausgebrannten Obstlers, denkt er, während er angeekelt das Gesicht verzieht. Mannomann, was hatten sie am Vorabend einen draufgemacht. Nach dem Essen, das wirklich lecker geschmeckt hatte, war der Hölzle-Bauer, er hieß Josef, bei ihnen in der Gaststube erschienen. Nur wenige Minuten später stand die erste Flasche Kirschwasser auf dem Tisch und der lederne Knobelbecher – auf Neudeutsch: Würfelbecher – wurde gut gelaunt hervorgeholt. Es wurde geschüttelt, gewürfelt, gelacht und getrunken. Der Ausgang ihres feuchtfröhlichen Knobelbecher-Abends war vorhersehbar gewesen und würde bestimmt heiteren Anklang bei ihren Freunden zuhause finden.

      Großer Gott, das dumpfe Pochen unter seiner Schädeldecke wurde immer schlimmer. Hoffentlich hatte Kirsten an die Kopfschmerztabletten gedacht. Er war doch extra noch bei der Apotheke vorbeigefahren und hatte zwei Schachteln besorgt. In die Küche hatte er sie gelegt. Auf den Küchentisch. Mitten drauf. Die konnte Kirsten beim Kofferpacken eigentlich gar nicht übersehen haben. Oder vielleicht doch?

      Egal, da musst du jetzt durch. Wer abends saufen kann, muss am nächsten Tag mit den Folgen leben, denkt Steffen, während er vorsichtig die Augen öffnet. Gleißender Sonnenschein, kalt und unbarmherzig. Frostblüten glitzern auf der verschmierten Glasscheibe. Ein herabhängender Eiszapfen, armdick, nach unten wie ein Dolch spitz zulaufend, schwebt scheinbar schwerelos vor seinem Fenster. Kein Schneetreiben mehr. Keine Wolken am Himmel. Nur die verdammte Sonne, die ihm wie ein Tausend-Watt-Strahler ins Gesicht scheint.

      Mit einem Ächzen schiebt er die dicke Daunendecke zur Seite und schaut auf seine Armbanduhr. 8.23 Uhr, Zeit zum Aufstehen.

      Eine leichte Bewegung neben ihm lässt ihn für einen Moment innehalten. »Nur noch fünf Minuten …«, nuschelte Kirsten verschlafen, die hübschen, braunen Augen fest zukneifend.

      »Schlaf weiter, mein Schatz. Es ist noch früh«, flüstert Steffen, während er die Beine aus dem Bett schwingt. Undefinierbares Gebrabbel neben ihm, ein Seufzen, Bewegungen unter der dicken, hässlich geblümten Daunendecke. Steffen hebt fröstelnd seine Schultern, während er sich suchend im Zimmer umschaut.

      »Arschkalt hier, das wird Kirsten gar nicht gefallen«, murmelt er gedankenverloren vor sich hin.

      Das ausgelassene Lachen zweier Frauen treibt ihn ans Fenster. Das Licht blendet ihn und er fragt sich, ob er seine Sonnenbrille überhaupt eingepackt hat? Wenn nicht, hat er ein echtes Problem. Verdammter Schnee, verdammter Kater, verdammte Sonne … Jenny und Luisa stehen unter seinem Fenster. Dick vermummt mit Mütze, Schal und Handschuhen. Kleine Atemwölkchen steigen aus ihren lachenden Mündern auf – es muss wirklich kalt da draußen sein. Seine Augen schweifen über die schneebedeckten Berge. Ein kleiner Teich fällt ihm auf; er scheint zugefroren. Abermals ein Lachen. Luisa und Jenny stehen neben einem gut zwei Meter großer Schneemann und fotografieren sich gegenseitig. Der Mann aus Schnee starrt zu ihm hinauf. Eisiger Blick, übergroße Karottennase, bunter Schal um den dicken Hals. Irgendwie gruselig, findet Steffen.

      Erst mal ins Bad. Eine Runde Duschen und die Zähne putzen. Der Geschmack in seinem Mund ist widerlich. Hoffentlich ist das Badezimmer wenigstens geheizt, denkt er sich, während er seine Kleidung vom hölzernen Dielenboden aufklaubt. Ihr Zimmer liegt im zweiten Stock des Haupthauses, das Gemeinschaftsbadezimmer befindet sich ein Stockwerk tiefer. Kein Problem, ist ja nur für einen Morgen. Ihr Ferienhaus oder besser gesagt: ihre Almhütte verfügt auch nur über zwei Bäder. Da müssen sie sich schließlich auch irgendwie arrangieren. Wer zuletzt kommt, den bestraft das Leben, denkt er und schmunzelt. Wahrscheinlich wird die Rolle der ewigen Letzten seiner Frau zufallen. Steffen kennt niemanden, der so lange schlafen kann wie Kirsten.

      Wer schläft, sündigt nicht, pflegt Kirsten immer mit einem entschuldigenden Lächeln zu sagen, wenn sie jemand auf ihre Langschläfer-Qualitäten anspricht.

      Er ist das genaue Gegenteil. Steht lieber früh auf, will die kostbare Freizeit nicht durch unnützes Schlafen vergeuden. Während sich Kirsten am Wochenende bis zwölf Uhr im Bett herumdrückt, zockt er lieber eine Runde ›FIFA‹ auf seiner – Gott, hatte das Teil eine geile Grafik! - PS4. Oder liest ein spannendes Buch von seinem Lieblingsschriftsteller Harlan Coben. Das neueste Werk von ihm ist gerade erschienen und Steffen freut sich schon darauf, es im Urlaub zu lesen.

      Noch ein letzter prüfender Blick auf seine Frau. Gut, sie schlummert friedlich unter der geblümten Steppdecke. Dann schnappt er sich seinen Kulturbeutel und schlüpft auf den kalten, ungeheizten Flur hinaus.

      -7-

      Nachdem sich alle durch ein ausgiebiges Frühstück gestärkt haben, rücken die Zeiger der Uhr der Mittagszeit entgegen. Selbst Kirsten ist, nach ihren Maßstäben gemessen, recht früh aufgestanden und wartet ungeduldig auf die bevorstehende Abfahrt. Über dem Hölzle-Hof schwebt eine friedvolle Euphorie. Es ist eine Art Pioniergeist, den man sonst nur bei Forschern findet, die zu einer abenteuerlichen Expedition aufbrechen.

      In stiller Eintracht stehen die Männer vor dem Schuppen, in denen die drei Snowmobile, ihre drei Snowmobile, untergebracht sind. Das Spielzeug für das Kind im Manne hat laut dem Hölzle-Bauern einen luftgekühlten Zweitaktmotor, der beinahe 70 PS leistet. Zwei Personen finden auf den schwarzen Ungetümen ihren Platz und ein wenig Gepäck kann man auch noch mit dazu packen. Ihre restlichen Habseligkeiten will Josef Hölzle mit seinem privaten Skidoo, einem roten Monster von Yamaha mit satten 150 PS, wie er ihnen voller Stolz erzählt hat, zur Hütte hinaufbringen. Er hat vor, einen Zugschlitten an seiner Yamaha zu befestigen und will sie die gut zehn Kilometer lange Strecke bis zu ihrer Almhütte begleiten. Von da an sind sie auf sich alleine gestellt und können nur noch über ein digitales Funkgerät mit der Außenwelt in Verbindung treten. Klasse!

      »Himmel, wo bleibt Josef denn? Er wollte doch nur noch die Schlüssel von den Skidoos holen«, murrt Ralf, während er voller Ungeduld zum Haus hinüber lugt.

      »Er kommt sicher gleich«, meint Simon und schlürft vernehmlich an seinem Kaffeebecher. »Ich bin gar nicht so scharf darauf, mit den Dingern zu fahren. Ein gescheites Mountainbike wäre mir ehrlich gesagt lieber.«

      »Echt jetzt? Quatsch, du verarscht mich doch, oder? Natürlich verarscht du mich. Das kannst du doch nicht wirklich ernst meinen?« sagt Ralf und lacht unsicher. »Doch! Ist mein voller Ernst. Alles, was Motoren hat, ist mir suspekt. Ich trete lieber selbst in die Pedale. Da weiß ich wenigstens, woran ich bin.«

      Steffen lehnt mit dem Rücken an der hölzernen Schuppenwand und verfolgt amüsiert die Unterhaltung seiner beiden Kumpels.

      »Vielleicht hat Josef ja noch irgendwo einen alten Holzschlitten«, lacht Ralf. »Mit dem könntest du uns dann ja hinterherrodeln.«

      »Schon klar«, erwiderte Simon und schlürft ein weiteres Mal an seinem Kaffeebecher. Er ist es gewohnt, dass man auf seine Kosten Späße macht, sobald er seine Meinung zu motorisierten Fahrzeugen kundtut.

      Irgendwo schlägt eine Tür laut zu. Ein überraschter Ausruf, leise, undeutlich. Erneut das Zuschlagen einer Tür, dann das protestierende Muhen einer gereizten Kuh. Für zwei, drei Atemzüge herrsch wieder Stille, dann folgt ein leiser Aufschrei. Steffens Blick wandert über den Hof, streicht suchend über das Haupthaus und die Stallungen hinweg. Ein Schatten, schnell, flüchtig, wahrscheinlich ein Mann, verschwindet gerade in der alten Scheune, in der sie auch ihre Autos untergestellt haben. Unbewusst hält er die Luft an und bemerkt erstaunt, dass es ihm seine beiden Freunde gleichtun. Ihr Gespräch ist verstummt, ihre Münder fest aufeinandergepresst. Ihre Blicke kreuzen sich. Steffen kann die Fragezeichen in Ralf und Simons Augen ganz deutlich sehen.

      »Was ist hier los?«, knurrt Ralf, während er sich einmal um die eigene Achse dreht. »Ihr habt es

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