Ave Maria für eine Leiche. Günther Tabery
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Günther Tabery
Ave Maria für eine Leiche
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Inhaltsverzeichnis
1
Die Straße machte eine enge Rechtskurve. Geh vom Gas, dachte Martin, wenn am Straßenrand diese roten Pfeile zu sehen sind, dann darfst du nicht schneller als 70 km/h fahren. Sowieso durfte man in seinem Auto nicht schnell fahren. Nicht schneller als 130 km/h. Es gab zwar keine rationale Erklärung für diese Regel, aber für ihn war es klar, dass dies das Beste für den armen Motor wäre. Das Auto war ein Opel Corsa und niemand war darin je schneller gefahren. Martin war ein guter, aber sehr defensiver Autofahrer. Er beachtete penibel, fast schon zwanghaft, alle Straßenregeln und fuhr nie schneller, als erlaubt war.
Nun führte die Straße geradeaus. Martin beschleunigte ein wenig und verspürte einen Zwang, den Innenspiegel anfassen zu müssen. Er tippte mehrmals auf den Spiegel. Unerfreulicher Weise hinterließ sein rechter Zeigefinger einen unschönen schmierigen Fleck. Dann, wenige Minuten später, ruckelte er einen kleinen Moment am Lenkrad, sodass das Auto einen Schwenker nach links machte. Martin sagte sich: Nein, aufhören und konzentrierte sich weiter auf die Fahrt. Am schwierigsten gestaltete sich der Zwang, nach links über die Schulter schauen zu müssen und dabei einen leisen grunzenden Laut auszustoßen. Dabei musste er besonders aufmerksam sein und die Straße nicht aus den Augen verlieren. Komischerweise war Martin ein guter Autofahrer, trotz seiner Zwänge und Tics, denn daran hatte er sich viele Jahre gewöhnt und als "Touretti", so nannte er sich selbst, lernte man mit den Jahren, seine Tics in den Alltag einzubauen und damit gut zu leben. Touretti war für ihn eine liebevolle Umschreibung für Menschen mit Gille-de-la-Tourette-Syndrom. Daran war er als Kind erkrankt und seither durchlebte er die verschiedensten Tics, mal stärker, mal weniger ausgeprägt. Natürlich wusste man in seiner Kindheit nicht viel darüber und es war sehr schwierig in der Schule und überhaupt in seinem Umfeld als Andersartiger zu leben und zu bestehen. Viele Menschen hatten Berührungsängste oder waren beschämt, da sie nicht einordnen konnten, warum er diese Zuckungen hatte und Geräusche ausstieß. Aber die Schule ging vorüber und später hatte er wunderbare Freunde, die ihm Halt gaben und auch die Familie stand immer hinter ihm, sodass ein normales Leben möglich war. Seit einigen Jahren wusste man viel über diese neurologische Krankheit und für die ganz stark Betroffenen gab es heute unterschiedliche Therapiemöglichkeiten. Martin war Fotograf und arbeitete in einem kleinen Fotostudio in Karlsruhe. Es war schön, dass die Krankheit bei diesem Beruf keine große Rolle spielte, denn wenn er sich kreativ betätigte, war er fast ganz Tic-frei.
Jetzt saß er im Auto und war auf dem Weg nach Dobel in das Retreat-Center von Beatrice Rissmann. Die Hochzeit-Saison war dieses Jahr besonders anstrengend gewesen und er dachte sich, jetzt im September könne er sich eine kurze Auszeit gönnen und die Seele baumeln lassen. Von diesem Retreat-Center hatte er im Internet erfahren und das Angebot gefiel ihm gut. Es gab täglich Yogakurse und Kunstangebote. Außerdem konnte man mit einem Fremdenführer die Umgebung erkunden. Es war nicht so weit von Karlsruhe entfernt, von der Stadt, in der er lebte und arbeitete. Im Ausland war er schon lange nicht mehr gewesen und als Single war es ein ideale Möglichkeit, andere interessante Menschen kennen zu lernen.
Er fuhr auf der Landstraße weiter und passierte Marxzell. Noch zehn Minuten dachte er, bis Bad Herrenalb und dann den Berg hoch. Er fiepte kurz, schaute über seine linke Schulter und fuhr frohen Mutes weiter.
Die letzten Kilometer ging es bergauf in den kleinen Ort Dobel. Dieser lag auf einer Bergkuppe, idyllisch umgeben von Wäldern, Lichtungen und Hängen. Im Winter konnte man hier auch Schlitten und Ski fahren, im Sommer war es ideal zum Wandern. Die schön herausgeputzten Häuser erinnerten etwas an eine Puppenstube, verspielt und wunderlich abgetrennt vom Rest der Welt. Das NAVI leitete Martin zum Weg in den Hirschgrund, die Straße, in der das Retreat-Center sein musste. Die Straße lag am Rand des Dorfes, führte an einigen Feldern und Wiesen vorbei. Der Dorfkern lag hinter ihm. Hier draußen sah man fast keine Häuser mehr. Martin freute sich und dachte, wie wunderbar dieses Fleckchen Erde war. Ganz am Ende der Straße erschien das Retreat-Center, ein zweistöckiges Gebäude, weiß angestrichen, am Hang gelegen, mit kleinen roten Balkonen an jeder Seite und einer großen Terrasse davor. Die Zimmer im ersten Stock verfügten nach hinten hinaus über kleine Terrassen, die in den Hang eingearbeitet waren.
Als er gerade sein Auto entlud, öffnete sich die Tür und eine großgewachsene, schlanke, brünette Frau kam ihm entgegen. Ihre großen blauen Augen und das gewinnende Lächeln fielen ihm sofort auf.
„Ich möchte Sie herzlich hier bei uns willkommen heißen“, eröffnete die Frau und lächelte ihn warm an. „Schön, dass Sie da sind. Ich hoffe, Sie werden sich hier bei uns wohlfühlen.“
„Sie sind Frau Beatrice Rissmann?“, fragte Martin.
Sie nahm ihm den Koffer ab und antwortete: „Genau. Und Sie müssen Herr Fennberg sein.“
Sie