Ave Maria für eine Leiche. Günther Tabery
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„Re“, gab Karen an.
„Na, da wird sich ja einer freuen, was? Du scheinst gute Karten zu haben“, mutmaßte Maximilian.
„Ja, wer weiß“, triumphierte Karen, „einer von euch wird sich möglicherweise freuen.“
Die drei übrigen sahen sich an und schwiegen. Ole löste die Stille auf: „Ich finde es super bei Doppelkopf, dass man am Anfang nie weiß, wer zusammen spielt. Das ist spannend und immer wieder neu."
„Keine 90“, wies Martin an und schaute freudestrahlend zu Karen hinüber.
„Na toll“, schnaubte Maximilian, „Dann habt ihr beiden also die Kreuzdamen und spielt zusammen. Und wir beide werden gnadenlos untergehen!“ Flehend schaute er zu Ole hinüber und hoffte, dass er seine Vermutung nicht bestätigen würde. Doch der schüttelte nur den Kopf und meinte: „Nächste Runde ist unser Spiel Max, dann schlagen wir zurück!“
In diesem Moment erklang eine wohlklingende, silbrige Stimme. Martha Lindeau war in ihrem Zimmer und begann mit ihren Stimmübungen. Ihre Stimme schien nach oben hin keinen Grenzen zu unterliegen. Ihre Spitzentöne erstrahlten virtuos.
„Aha, das habe ich schon vermutet. Martha singt sich ein“, bemerkte Maximilian gereizt. Er schaute in die Runde und hoffte auf Zustimmung. Jedoch schienen die anderen drei angetan zu sein und lauschten einen Moment innig der Musik.
„Ich habe sie noch nie singen hören. Es klingt schön“, erkannte Karen an. Dann schüttelte sie nachdenklich den Kopf. „Unfassbar, wie wenig die Schönheit der Stimme mit der Schönheit der Seele zu tun hat.“
„Na, na, ich bitte dich“, Ole war entrüstet. „Sie ist doch ein wunderbarer Mensch und ihre Seele spiegelt sich tatsächlich in ihrer Stimme.“
Martin, der die beiden beobachtete, sah ein kurzes Flackern in den Augen Karens. Wie wenig doch ihr Weltbild der `heiligen Familie´ mit dem Weltbild Marthas zusammen passte und wie wenig tolerant Karen erschien. Laut sagte er: „Lasst uns weiterspielen.“
Die nächsten Spiele liefen ereignislos. Maximilian wurde immer griesgrämiger, weil es keine Möglichkeit für ihn gab zurückzuschlagen. Es schien so, als ob er an diesem Tag kein Glück hätte.
Dann, nach dem `Ave Maria´ aus Verdis Otello, verstummte die Stimme.
„Schade, sie hat aufgehört zu üben“, bedauerte Martin.
„Mir soll es recht sein. Ich konnte mich überhaupt nicht auf mein Spiel konzentrieren. Gleich beginnt der Kunstkurs. Lasst uns noch einmal austeilen und dann morgen weiterspielen. Was meint Ihr?“, fragte Maximilian.
„Na klar, gerne.“ Ole war begeistert. „Spielen wir morgen weiter. Zur gleichen Zeit…“
„…am selben Ort“, beendete Martin den Satz.
Nach dem Abendessen waren alle Gäste zusammen im Aufenthaltsraum. Ole und Martin unterhielten sich auf der Couch, Maximilian und Martha standen am offenen Balkon und Petra und Karen saßen steif auf ihren Essensplätzen.
„Bist du verheiratet?“, fragte Ole neugierig.
„Nein, ich bin leider Single. Was nicht heißt, dass dies nicht einmal der Fall sein könnte. Ich stelle mir schon vor, einmal in ferner Zukunft Familienvater zu werden. Nur habe ich die passende Frau bis jetzt noch nicht gefunden.“ Martin schaute verträumt in die Ferne. „Als Mann hat man ja noch ein bisschen Zeit. Da tickt keine biologische Uhr. Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Und du? Hast du eine Freundin?“
Ole nickte. „Ja, ich habe eine Freundin. Chrissi heißt sie. Ich habe sie beim Standardtanzen kennen gelernt.“
„Das ist aber ganz untypisch für so einen jungen Mann. Ist das nicht etwas antiquiert?“, staunte Martin.
„Nein, in Heidelberg gibt es viele Möglichkeiten tanzen zu gehen. Sogar an der PH haben wir einen Tanzkurs für Studenten. Nun ja. Ich war dort, das erste Mal und sah die vielen Paare tanzen. Und das war ein toller Anblick. Ich persönlich habe mal in der Schule einen Anfängerkurs mitgemacht, aber mehr als den Grundschritt konnte ich nicht mehr tanzen. Und dann kam sie plötzlich auf mich zu und fragte, ob ich auch tanzen wollen würde oder nur so herumstehe. Na, du kannst dir meine Aufregung ja vorstellen.“
Martin nickte voller Anteilnahme. Schön, dachte er sich, wie begeisterungsfähig dieser Ole doch war.
„Also ging es los auf die Tanzfläche. Und du kannst dir denken, wie furchtbar dumm ich mich angestellt habe. Aber sie hat sich nicht darüber beschwert, dass ich ihr ständig auf den Füßen herumgetrampelt bin. Im Gegenteil. Sie machte mir Komplimente. Stell dir vor.“ Er lachte und rieb sich die Hände. „Naja, so war das mit uns beiden. Seitdem haben wir uns jeden Tag gesehen und seitdem sind Chrissi und ich ein Paar. Sie ist die Liebe meines Lebens. Ich würde alles für sie tun. So ein intensives Gefühl habe ich noch nie gehabt. Bei niemanden.“
Martin betrachtete Ole und dachte bei sich, wie überschäumend schön doch die Liebe sein musste. Da saß er, dieser Ole und schwärmte von seiner Freundin und nichts anderes hatte mehr Bestand in der Welt.
„Warum ist sie nicht mit hierher mitgekommen?“, fragte Martin laut.
„Sie hat keinen Urlaub bekommen. Es war ihre Idee, dass ich hierher kommen könnte. Sie sagte, ich solle mir eine Auszeit gönnen. Wir wollen auch versuchen, diese Woche nicht zu telefonieren und keine Sms zu schreiben. Einfach einmal eine Woche Auszeit.“
Na, wahrscheinlich war es dieser Chrissi auch zu viel, dachte Martin. Zu viel der Liebesbekundungen, der Liebesschwüre. Kann ich sehr gut verstehen. Er lachte in sich hinein.
„Martha, du hast heute wieder wunderschön gesungen“, Maximilian kam ganz dicht an sie heran.
„Danke dir, mein Lieber“, ein professionelles Lächeln glitt über ihren Mund. „Ich habe die Probe aufgenommen und mir hinterher angehört. Es waren einige schöne Phrasen dabei. Morgen werde ich wieder singen und schauen, ob ich die Fehler von heute besser in den Griff bekomme.“
„Du singst so wunderbar und trotzdem arbeitest du immer noch so hart an dir. So wie zu Beginn deiner Karriere.“ Voller Bewunderung schaute er Martha an. Wie ein kleines Kind, das zum ersten Mal im Zirkus einen Clown sah.
„Ohne Arbeit kein Lohn.“
Das liebevolle Bild des Zirkusclowns zerplatzte. Maximilian bekam einen anderen Gesichtsausdruck.
„Du hast doch bereits so viel gesungen in den letzten Jahren und du hattest wirklich auch sehr viele gute Engagements mit einer sehr guten Bezahlung“, forschte er.
„Ja, das ist richtig.“
„Wie wäre es denn dann, wenn du mir die Arbeit, die ich für dich vor einigen Jahren gemacht habe, jetzt entlohnst?“
Martha starrte ihn einen Moment lang an. Maximilian schaute ihr fest in die Augen und fuhr fort: „Du weißt. Ich habe dir als Mediendesigner und Fotograf deinen kompletten Internetauftritt, deine Bilder, die Hörbeispiele, deine Garderobe, alles, was du damals brauchtest, um Fuß fassen zu können,