Ave Maria für eine Leiche. Günther Tabery
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Alle standen auf und verließen den Aufenthaltsraum, um sich in ihren Zimmern für den Kurs vorzubereiten. Martin freute sich auf die kommenden zwei Stunden. Yoga wollte er schon immer einmal ausprobieren und sehen, wie sich dies auf seine Tics auswirkte. Er zog seine Turnhose an, ein T-Shirt und seine Sportschuhe und lief die Treppe hinunter in Richtung Terrasse. Dort stand bereits Martha Lindeau mit Jörg Ballhaus vertieft in ein Gespräch. Martin blieb stehen und beobachtete die beiden. Ab und an umspielte Jörgs Mund ein Lächeln. Ihre Stimmen waren gesenkt. Marthas Körper war weich und ihre Hüfte wippte ein paar Mal hin und her. Sie spielte dabei mit ihren Haaren. Mit einem lauteren Lachen verließ sie ihn und suchte sich einen Platz auf der Wiese.
Bald waren alle bereit auf ihren Matten und der Kurs begann. Als Aufwärmübung wurde als Erstes der Sonnengruß erarbeitet. Dieser sollte die Muskeln aufwärmen und den Körper dehnen. Jörg Ballhaus machte jeden Schritt dieser komplexen Übung vor, den alle bereitwillig nachahmten. Nachdem der Ablauf dieser Übung bekannt war, ging Jörg von Teilnehmer zu Teilnehmer und legte hier und da seine Hände auf, verbesserte die Haltungen und überprüfte, ob die Körper gelöst oder angespannt waren. Seine samtige Stimme beruhigte alle Teilnehmer zusehends.
Nach dem Sonnengruß wurden verschiedene Übungen durchgeführt. Einige davon waren der Baum, die Heuschrecke oder die indische Hocke. Unterbrochen wurden diese Übungen von Meditationsworten und Klangsilben.
Nach dem Kurs waren die meisten entspannt und ihre Körper von Wärme durchflutet. Fast alle waren sich einig, dass dies ein sehr guter Einstand in diese Entspannungswoche gewesen ist. Nur Petra war schlecht gelaunt und machte eher den Eindruck, dass ihr der Kurs nicht so recht gefallen hätte.
„Was ist denn, meine Liebe?“, fragte Martha. „Hat es dir nicht gefallen?“
Petra antwortete ausweichend: „Ich muss mich erst einmal daran gewöhnen. Ich bin derlei Übungen nicht gewohnt und mir fiel es auch schwer, die Übungen zu begreifen.“
„Ach, mach dir keine Gedanken. Du wirst sehen, beim zweiten Mal klappt es schon viel besser.“ Sie blickte Petra strahlend an. „Du musst dich darauf einlassen und dich fallen lassen.“
Petra seufzte leise. Wenn das so einfach wäre, dachte sie. Sie sagte: „Ich gehe jetzt erst einmal duschen.“ Mit diesen Worten verließ sie die Gruppe. Auch Karen und Maximilian gingen ins Haus. Martha blieb noch mit Martin zurück.
„Mir hat der Kurs sehr gut gefallen“, begann Martha. „Diese Art der Arbeit unterstützt meinen Körper. Weißt du, Singen ist auch körperliche Arbeit. Der Körper muss in Spannung sein, aber gleichzeitig elastisch bleiben. Viele Sänger machen Yoga und ich denke, dass ich damit auch anfangen werde.“
„Ja, das kann ich gut nachvollziehen“, meinte Martin. „Mir hat der Kurs auch gut getan.“
Martha blickte ihn musternd an: „Du hast jetzt weniger Tics“, sagte sie direkt. Martin war erstaunt, dass ihn Martha darauf ansprach. Sie hat eine gute Beobachtungsgabe, überlegte er.
„Das ist mir gleich aufgefallen, als wir mit den Übungen anfingen. Du warst auch sehr konzentriert und dann waren deine Tics plötzlich verschwunden.“ Sie lachte.
„Man muss abwarten, ob der Effekt auch anhält.“
„Das ist das Tourette-Syndrom, nicht?“, fragte sie unvermittelt. „Ich habe darüber gelesen.“
„Ja, das stimmt.“
„Ist aber nicht schlimm. Ich mag das, wenn man seine Eigenarten hat. Mich stört es nicht. Das hebt dich von den anderen ab und macht dich unverwechselbar. Stimmt es, dass Menschen mit Tourette besondere Begabungen haben können?“
„Das vermuten einige Forscher. Man soll sich besser auf bestimmte Dinge konzentrieren können. Manche sagen auch, dass sie besonders intelligent oder kreativ sind.“
„Na, das ist doch toll!“, sagte sie. „Man muss immer das Beste daraus machen, oder?“ Mit einem gewinnenden Lächeln verließ sie ihn und ging ins Haus. Tolle Frau, dachte Martin bei sich. Sie hat so eine positive Ausstrahlung.
Martin ging ebenso in sein Zimmer, duschte sich und legte sich hin. Es kehrte Ruhe in das Retreat-Center von Beatrice Rissmann ein.
Nach dem Mittagessen, das reichlich war und sehr gut schmeckte, blieben die Frauen Karen, Petra und Martha zurück auf der Terrasse.
„Mir tut jetzt noch alles weh“, fing Petra an, die in der Zwischenzeit nochmals über den Yogakurs nachgedacht hatte. „Ich komme einfach nicht auf den Boden mit meinen Händen und in was für abscheuliche Stellungen ich mich verrenken musste. Ich weiß nicht, wie das überhaupt gehen soll. Mit über 40 ist das ja nicht mehr zu erwarten, dass das so einfach funktioniert!“
„Ach Petra“, beschwichtigte Karen, „das hat doch mit dem Alter nichts zu tun“
„Nur weil es bei dir geklappt hat, heißt das nicht, dass das auch normal sein muss.“ Es klang etwas Feindseliges in ihrer Stimme. „Ich kenne viele Frauen in meinem Alter, die damit Probleme hätten.“ Sie blickte Martha von der Seite an: „Und wie er mich angefasst hat. So vertraulich. Nein, mir hat es ganz und gar nicht gefallen. Ich überlege mir, ob ich morgen wieder hingehe.“
„Ich fand es sehr schön“, sprach Martha verträumt. „Und mir hat es nichts ausgemacht, dass er mich angefasst hat. Im Gegenteil“, sie lächelte verschmitzt, „er hat so starke Hände.“
„Aber Martha, was sagst du da?“, Petra war entsetzt. „Du bist doch verheiratet, hast du mir erzählt. Wie kannst du dann so von einem anderen Mann sprechen?“
Martha schaute Petra verdutzt an: „Aber es ist doch nichts geschehen? Ich habe nur ein bisschen geschwärmt. Das hat mit meiner Ehe nichts zu tun. Ein kleiner Flirt hält fit und gesund. Daran habe ich mich immer gehalten.“ Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging summend in den Aufenthaltsraum in Richtung Treppe. Die anderen beiden schauten ihr nach.
„Hast du das gehört?“, flüsterte Karen atemlos. Sie konnte sich nicht zurückhalten und es sprudelten die Worte nur so aus ihr heraus. „Das hat mit ihrer Ehe nichts zu tun? Wie sie sich an ihn rangemacht hat. Das kann ich nicht verstehen. Die Ehe ist ein heiliges Sakrament. Es gibt nichts Schöneres und Besseres als das. Und dann so eine Einstellung. Ich denke, Martha und ich haben nichts gemein. Ich wusste, dass ich mit so einem Schlag Mensch nichts anfangen kann.“ Sie war vollkommen aufgeregt und konnte sich kaum beruhigen.
„Ja, ja, eine Sängerin ist das“, pflichtete Petra ihr bei. „Und wie sie sich kleidet und wie sie sich mit Schmuck behängt. Sogar beim Sport! Hast du auch den Schmuck gesehen? Da passt alles zusammen. Sie schaut aus wie ein bunter Pavian.“
Martin saß auf seinem Balkon und hörte gespannt der Unterhaltung auf der Terrasse zu. Etwas verwundert war er über die plötzliche feindselige Stimmung gegenüber Martha Lindeau. Nur weil sie ein wenig geflirtet hatte, was ihm natürlich auch aufgefallen war, war doch die Reaktion der beiden Frauen etwas zu übertrieben. Klang da ein bisschen Neid heraus? Neid, aufgrund der fabelhaften Erscheinung Marthas, die auf ihr Äußeres großen Wert legte, sich schön kleidete und anscheinend auffallenden schönen Schmuck trug? Neid, weil sie einfach das tat, wonach ihr war? Gedankenvoll schaute er in die Ferne.
Er wurde von einem dumpfen Klopfen aus seinen Gedanken gerissen. Ole Roggenstern stand vor der Tür und