Die Kestel Regression. Jürgen Ruhr

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Die Kestel Regression - Jürgen Ruhr

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gehe davon aus, dass sie alle wissen, warum wir uns heute hier zu einer außerplanmäßigen Anhörung eingefunden haben. Ich muss auf die Beweggründe trotzdem wegen des Protokolls eingehen. Zunächst einmal stelle ich die Anwesenheit fest: Im Raum befinden sich Herr Dr. Bernard Barters, sein Assistent Herr Dr. Friesgart, ferner Dr. Reinhard Gelsmann in seiner Eigenschaft als neutraler Beobachter, Frau Sabine Vornau die Sekretärin und Schriftführerin, sowie meine Wenigkeit, Dr. Dr. med. Osslinger, der Leiter der Klinik. Und zu guter Letzt befindet sich der Patient Tobias Kestel in dem Konferenzraum.“

      Osslinger machte eine kurze Pause und wartete, bis die Sekretärin alles in ihren Computer getippt hatte. Dann fuhr er fort: „Auf Anliegen des Arztes Dr. Meunier und einiger anderer Kollegen treffen wir hier heute zu einer Anhörung des Patienten Tobias Kestel in der Angelegenheit seiner durch Dr. Barters diagnostizierten Heilung und der damit einhergehenden Entlassung aus der psychiatrischen Klinik. Dr. Meunier und seine Kollegen drängen in einem durch Boten zugestellten Schreiben darauf, die geplante Entlassung zu revidieren und Herrn Tobias Kestel in der Obhut und Behandlung der Klinik zu belassen. In den angeführten Argumenten bezweifelt Dr. Meunier den Erfolg der Therapie des Herrn Dr. Barters.“

      Wieder folgte eine Pause. Barters hielt seinen Blick auf die Tischplatte gesenkt, beobachtete aber aus den Augenwinkeln abwechselnd seinen Patienten Tobias Kestel, sowie den Klinikleiter. Die Frage, die ihn beschäftigte, lautete, ob Osslinger gegen die Entlassung Kestels ebenfalls Bedenken hegte. Dr. Meunier konnte durch seinen Brief zweifellos in Osslinger eine gewisse Angst in Bezug auf das zukünftige Verhalten des Patienten geweckt haben. Dr. Osslinger befand sich in einer Zwickmühle, auf deren einen Seite das gute Geld von Barters Vater und auf der anderen Seite die Unsicherheit in Bezug auf die Person Kestel steckten. Wie würde Osslinger entscheiden?

      Der Klinikleiter zog einen Aktenordner, der vor ihm auf dem Tisch lag, zu sich heran und blätterte darin. „Herr Kestel“, wandte er sich an den Patienten, der sofort von seinem Stuhl aufsprang und so etwas wie eine militärische Haltung annahm. ‚Übertreibe es nicht‘, warnte Barters ihn mit den Augen, doch Kestel blickte stoisch zu Boden.

      „Herr Tobias Kestel, wie geht es ihnen, wie fühlen sie sich?“

      „Gut, danke Herr Klinikleiter. Ich fühle mich ruhig und zufrieden, allerdings ein wenig unterfordert. Ich möchte arbeiten, etwas schaffen und mir meinen Lebensunterhalt selbst verdienen. Dank der Therapie meines wundervollen Arztes bin ich ein vollkommen neuer Mensch geworden. Den alten Tobias Kestel gibt es nicht mehr.“

      Osslinger nickte mit dem Kopf und Barters atmete ein wenig auf. Sie hatten Kestels Antwort zum Glück lange genug einstudiert.

      „Sehr schön, Herr Kestel.“ Dr. Osslinger wandte sich an die Sekretärin: „Bitte nehmen sie ins Protokoll auf, dass wir jetzt hier nicht alle von Dr. Barters durchgeführten Therapien und Maßnahmen erläutern wollen, sondern dem Protokoll die Therapieunterlagen anheften werden. Ich fahre nunmehr mit der Befragung fort.“

      Er wandte sich wieder dem Patienten zu, lächelte und meinte: „Herr Kestel, bitte erläutern sie mir, was sie denken, wenn sie ein Kind oder eine Gruppe Kinder sehen.“

      Kestel schwieg einen Moment, so als würde er über die Frage angestrengt nachdenken. Doch auch diese Thematik hatten Barters und er eingehend besprochen. „Herr Vorsitzender, ich habe selbst zwei Kinder und meine Gedanken kreisen lediglich darum, dass es den Kindern - allen Kindern - gut gehen möge und ich hoffe, meine eigenen eines Tages einmal wiedersehen zu können. Falls sie darauf ansprechen, ob ich jemals wieder diese falschen Sachen machen möchte, so kann ich mit einem klaren ‚Nein‘ antworten. Das war ein anderer Tobias Kestel. Ein kranker Mensch, der ich heute nicht mehr bin. Dr. Barters hat mich geheilt.“

      Wieder nickte der Klinikchef und wieder atmete Barters ein wenig auf. Kestel musste lediglich noch ein paar Fragen weiter durchhalten. Barters Reputation in Fachkreisen rückte wieder in greifbare Nähe.

      „Ich nenne ihnen jetzt einige Begriffe, auf die sie mir spontan und ohne langes Nachdenken antworten werden. Antworten sie möglichst mit nur einem Wort. Haben sie verstanden, worum es geht, Herr Kestel?“

      Der Patient Tobias Kestel nickte und Dr. Barters rieb sich im Geiste die Hände. Dieses Frage- und Antwortspiel hatten sie bis zum Erbrechen geübt. Schließlich war es Teil der Therapie und eine Möglichkeit, den Geisteszustand des Patienten zu erforschen.

      Kestel nickte.

      „Gut, beginnen wir: Fahrrad.“

      Kestel blickte unbefangen auf: „Fortbewegung.“

      „Kinderspielplatz.“

      „Sand.“

      „Messer.“

      „Brote.“

      „Skalpell.“

      „Ärzte.“

      „Schmerzen.“

      „Linderung.“

      Barters hielt die Luft an. Alle Antworten entsprachen seinen Befragungen, lediglich die auf ‚Schmerzen‘ hatte Kestel bisher mit ‚Tabletten‘ beantwortet. ‚Linderung‘ war sehr mehrdeutig, zumal in allen Polizeiprotokollen stand, dass Kestel seinen jungen Opfern damals ‚Linderung‘ verschaffen wollte.

      Aber Dr. Osslinger ging auf die letzte Antwort nicht ein. Vielleicht hatte er nicht richtig zugehört oder er akzeptierte die Antwort einfach nur so. Jedenfalls beendete er mit einem zufriedenen Nicken die Befragung und wandte sich wieder seiner Sekretärin zu: „Bitte vermerken sie: keine Auffälligkeiten.“

      Als das leise Klappern der Tasten verklang, wandte sich der Klinikchef erneut an den immer noch stehenden Tobias Kestel: „Herr Kestel, bitte machen sie jetzt zehn Kniebeugen.“

      Kestel tat wie ihm geheißen.

      Barters musste sich stark zusammenreißen, um ein Lachen zu unterdrücken, während Tobias Kestel pflichtgemäß in die Knie ging. Wollte Osslinger das Ganze jetzt ins Lächerliche ziehen? Aber vielleicht war dies ja eine kleine Retourkutsche an Dr. Meunier. Etwas, das ihm zeigte, wie unsinnig sein Ansinnen gewesen war.

      „Sie können sich wieder setzen, Herr Kestel.“ Dr. Osslinger wandte sich an Dr. Barters: „Herr Kollege bitte schildern sie uns, wie sich Herr Kestel auf seinen Freigängen verhalten hat.“

      „Gerne Herr Direktor.“ Barters erhob sich und blickte zu dem Klinikleiter und seiner Sekretärin, die sich dienstbeflissen über den Laptop beugte. „Der Patient Tobias Kestel erhielt regelmäßig kontrollierten Freigang, um ihn an das Leben außerhalb dieser Klinik zu gewöhnen und seine Reaktionen auf fremde Menschen, insbesondere kleine Kinder, zu verifizieren. Tobias Kestel wurde von meinem Assistenten Herrn Dr. Friesgart begleitet. Dr. Friesgart hat über jeden Freigang einen detaillierten Bericht erstellt. Diese Berichte können dem Protokoll ebenfalls angehängt werden. Ich möchte mich jetzt lediglich darauf beschränken, dass Herr Tobias Kestel sich tadellos benommen hat und selbst in Augenblicken, in denen er sich unbeobachtet fühlte, keine Unregelmäßigkeiten erkennen ließ.“ Dr. Barters verbeugte sich kurz und setzte sich mit langsamen Bewegungen auf seinen Stuhl zurück.

      Dr. Osslinger nickte allen Anwesenden freundlich zu. „Meine Herrschaften, wir kommen jetzt zu der Beschlussfassung. Um eine Pattsituation zu vermeiden, also ein eindeutiges Ergebnis zu bekommen - und dies frei jeglicher Beeinflussung - veranlasse ich, dass es zu einer Abstimmung kommt. Ich werde den Raum verlassen, um zu vermeiden, dass sich jemand von ihnen durch mich zu einem ihm nicht genehmen Entschluss gedrängt

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